Rede · Flemming Meyer · 12.09.2002 Große Anfrage Kinderbetreuung in Schleswig-Holstein

„Die neue Kindergartenfinanzierung der Landesregierung ist wie wenn man in öffentlichen Bussen den Fahrscheinpreis davon ab­hän­gig macht, wie viele Leu­te gerade im Bus sitzen.“


Die Familienpolitik, die Bildung und die Einwanderer-Integration haben Hochkonjunktur. Gegen­wärtig können wir uns über die politische Auf­merksamkeit für Kin­der und Jugendliche nicht beklagen. Ob es um Familien, Gesundheit, Kriminalität, Drogenkonsum oder soziale Ausgrenzung geht - immer wie­der wird der Ursprung der Probleme im Kindesalter deutlich. Deshalb wird es glücklicher Weise allmählich zum Allgemeingut, dass eine gesellschaftlich und ökonomisch weitsichtige Politik schon bei den Kindern ansetzt.

Sozusagen das Minimum ist, dass ihnen eine vernünftige Betreuung zur Verfügung steht. Kinderbe­treuung fördert die Entwicklung der Kinder, bietet ihnen Chancengleichheit und ermöglicht die Erwerbs­tätigkeit der Eltern. Selbst diese grundlegenden Voraussetzungen waren lange nicht gewährleistet. Aber in diesem Punkt hat sich unsere Gesellschaft im vergangenen Jahrzehnt gewaltig weiter entwickelt. Wir haben den Rechtsanspruch auf einen Be­­treuungsplatz bekommen und umgesetzt. Trotz zunehmend schwieriger öffentlicher Finanzen in den neunziger Jahren wurde die Betreuung kontinuierlich ausgebaut. Die Personalkostenförderung des Landes Schleswig-Holstein wurde von 1988 bis 2001 mehr als verdoppelt - von 20,5 Millionen € auf 53,2 Mio. Diese Zahlen zeigen eindrucksvoll, welche erhebliche Kraftanstrengung stattgefunden hat – und welche Defizite vorher bestanden.

Wer die Antwort der Landesregierung auf die große Anfrage liest kann nicht im Zweifel sein, dass im letzten Jahrzehnt viel erreicht worden ist bei der Kinderbetreuung. Allerdings bleibt wenig Zeit um sich auf der Lorbeeren auszuruhen. Die Daten im vorliegenden Bericht machen sehr deutlich, dass die meisten Eltern – vor allem die Mütter – immer noch kaum die Chance auf eine Vollzeitbeschäftigung haben. Deshalb ist es für die zukünftige Entwicklung vor allem not­wendig, die Betreuungszeiten auszuweiten. Die geplante Förderung der Landesregierung setzt auch an diesem Punkt an, längere Betreuungszeiten werden zusätzlich gefördert.

Grund zum Rasten gibt nicht, denn unsere Ziele haben sich weiterentwickelt: Es geht heute nicht mehr nur darum, einen Halbtagsplatz vorzuhalten, damit die Kin­der dort geparkt werden können. Es geht um Förderung und Prävention. Dadurch gewinnen auch die Inhalte und die Qualität der Betreuung an Bedeutung. Gerade die Qualität gerät aber angesichts der ohnehin enormen Investitionen unter finanzpolitischen Druck. Das haben wir ja in der Diskussion um Standardsenkungen bei den Kindertagesstätten erlebt. Mit dem neuen Fördermodell der Landesregierung wird jetzt versucht, die Defizite in der Versorgung zu beheben, ohne mehr auszugeben. Die vorgeschlagenen strukturellen Änderungen werden aber nicht ohne Einschnitte bei der Qualität umgesetzt werden können.

Wir halten vor allem eine reine Pro-Kopf-Förderung für falsch. Die neue Finanzierung der Landesregierung ist das gleiche, wie wenn man in öffentlichen Bussen den Fahrscheinpreis davon abhängig macht, wie viele Leu­te gerade im Bus sitzen. Unrentable Linien auf dem Land werden gleich ganz geschlossen. Wie im Busverkehr hat die öffentliche Hand aber auch bei den Kinder­gärten eine Verantwortung für die Grundversorgung in der Fläche. Auch ein Mensch, der in den unendlichen Weiten Nordfrieslands wohnt, kann für sich in Anspruch nehmen, dass sein Kind in vertretbarer Entfernung pädagogisch ordentlich betreut wird. Deshalb können nicht Effizienz­kriterien allein der Maßstab für die Förderung sein.

Es ist richtig, dass die Finanzierung pro Kind heute erheblichen Schwankungen unterliegt. Ein Kind in einer nicht ganz „gefüllten“ Einrichtung auf dem Land kostet uns mehr, als ein Kind in einer zum Bersten vollen Kita im Hamburger Randgebiet. Ich kann nachvollziehen, dass die größeren Häuser und Träger dieses als ungerecht empfinden. Aber es ist nun einmal so, dass es wesentlich teurer ist, eine Einrichtung mit wenigen Kindern auf einem Dorf in Nordfriesland zu betreiben als mehrere Gruppen oder sogar mehrere Einrichtungen mitten in Kiel. Wir sind entschieden dagegen, dass die Kindergartenlandschaft – wie früher bei den Dorfschulen – zentralisiert wird. Wir können es den Kleinsten nämlich nicht zumuten, dass sie im ländlichen Raum jeden Tag lange Strecken in Bussen zu­rücklegen müssen, damit 20 oder 22 Kinder für eine Gruppe zusammen kommen. Die Erhaltung kleiner Einrichtungen wäre bei der neuen Finanzierung aber nur durch eine höhere Kostenbeteiligung der örtlichen Jugendhilfeträger oder der Eltern möglich. Das ist keine Alternative.

Ein anderes Problem in Verbindung mit der Pro-Kopf-Finanzierung besteht darin, dass hiermit ja auch Anreize dafür gesetzt werden, dass vor allem große Träger die Gruppengrößen maximal ausreizen. Das mag wirtschaftlicher sein. Ob es qualitativ oder pädagogisch sinnvoller ist, ist aber fraglich. Wir haben uns ja bereits mehrfach in diesem Hause mit Standards für Kindertagesstätten auseinandergesetzt. Unsere Haltung ist dabei klar: Wir wollen keine weitere Verschlechterung des Parameters Gruppengröße. Gerade angesichts der vielen Anforderungen, die wir heute an Kindertagesstätten stellen, können wir dieses nicht vertreten. Eine reine Pro-Kopf-Förderung wird manche großen Träger befriedigen, sie wird aber auch Strukturen zerschlagen. Die Kindergartenförderung muss auch weiterhin berücksichtigen, dass die Per­sonalkosten der Kitas weitgehend unabhängig von der Kinderzahl sind.

Wir lehnen die Reform der Landesförderung nicht in Bausch und Bogen ab. Wir meinen aber, dass eine Neuordnung einen Sockel an Förderung für alle Einrichtungen gewährleisten muss. Wir begrüßen ausdrücklich, dass längere Öffnungszeiten und besondere Leistungen der Einrichtungen auch honoriert werden sollen. Das gilt für die Integration von Behinderten ebenso wie für Zuschläge für besondere sprachliche Leistungen für Migrantenkinder oder andere Minderheiten. Die Grundzüge der Reform bleiben aber problematisch.

Aber trotz allem: Insgesamt gesehen sind wir aber bei der Grundversorgung für die 3- bis 6jährigen schon weit gekommen. Unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen deshalb Betreuungsange­bote für Kinder vor und nach dem Kindergartenalter.

Zum einen reden wir über die Altersgruppe der Unter-3jährigen. Hier gibt es noch ein erhebliches Unterangebot. Das lässt sich bereits daran ablesen, dass in manchen Kreisen und Städten gar kein solches Angebot vorgehalten wird.

Zum anderen geht es zukünftig auch um eine ordentliche Betreuung für die Schulkinder. Späte­stens seit der Diskussion um die Ausländerintegration und um die PISA-Bildungsstudie ist die Nach­mit­­tags­beschäftigung der Schulkinder ja wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Wir sind dagegen die Schule einfach in den Nachmittag zu verlängern. Die Angebote am Nachmittag sollen etwas anderes sein als eine Verlängerung der Wissensvermittlung. Die beste Lösung liegt zwischen Schule und Betreuung: Sie ist ein pädagogisch wertvolles Angebot, das den Kindern eine sinnvolle Freizeitgestaltung gestattet und den Eltern die Berufstätigkeit ermöglicht. Sie fördert die Entwicklung auf Gebieten jenseits der schulischen Wissensvermittlung und bietet den Kindern andere Chancen.

Hier sind Einrichtungen wie die betreute Grundschule oder die geplanten Ganztagsangebote ein erster Schritt. Allerdings wirklich nur ein erster. Ich kann verstehen, dass man aus finanziellen Gründen auf Quantität setzt – dass man die deutlich billigeren Angebote vorzieht. Wer es aber ernst meint mit der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe, mit der Vorbeugung von sozialen Problemen und PISA-Pleiten, darf die Qualität nicht aus dem Auge verlieren. Deshalb müssen auch pädagogisch hochwertige, präventiv angelegte Angebote der Jugendhilfe - wie Horte, Häuser der offenen Tür, dänische Freizeitheime und Freizeitclubs - weiterhin gefördert werden. Wir sind dagegen, durch die Einrichtung von reinen Betreuungsveranstaltungen bei den qualifizierten - und damit teureren - Angeboten der Jugendhilfe zu sparen, was gerade auf kommunaler Ebene sehr beliebt werden dürfte.

Die Anstrengungen der letzten Jahre war vor allem darauf ausgelegt,der Familie so die Tagesplanung zu erleichtern. Diese Möglichkeit der Betreuung für alle Kinder ist aber nur das absolute Minimum. Schleswig-Holstein hat in den letzten Jahrzehnten ehebliche Anstrengungen unternommen, um die Zahl der Betreuungsplätze im Land zu erhöhen. Jetzt ist es Zeit darauf zu achten, dass die Qualität nicht weggespart wird. Damit würden wir nämlich kaum den politischen Herausforderungen gerecht werden, vor denen wir gegenwärtig stehen.

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