Rede · Flemming Meyer · 21.11.2007 Kinderschutzgesetz


Der SSW  stimmt dem vorliegenden Gesetz zu. Wir sind der Überzeugung, dass  Schleswig-Holstein mit diesem vorbildlichen Vorhaben den richtigen Weg beschreitet; den Weg hin zu mehr Schutz von Kindern und Jugendlichen. Nachdem wir im Juli den Schutz von Kindern und Jugendlichen als Staatsziel in der Landesverfassung verankert haben, ist das Kinderschutzgesetz quasi die gesetzliche Unterfütterung des Verfassungsgebotes. Das nenne ich: Nägel mit Köpfen machen. Die fraktionsübergreifende Einigkeit belegt, dass es allen Ernst ist mit einem effektiven Kinderschutz.

Die neueste Studie des Kinderhilfswerks hat in der letzten Woche noch einmal eindrücklich die Dimensionen dieser Aufgabe vor Augen geführt. Die soziale Schere geht jedes Jahr weiter auseinander: die Kinderarmut verdoppelt sich in Deutschland alle zehn Jahre. Arme Kinder haben einen unzureichenden Zugang zur medizinischen Versorgung, durchschnittlich schlechtere Schulabschlüsse und sie haben demzufolge bei der Verteilung der Lebenschancen im wahrsten Sinne des Wortes schlechte Karten. Die Hartz-Gesetze haben in einem so dramatischen Maße die Schicksale von Millionen Kindern berührt, wie sich das der damalige rot-grüne Gesetzgeber sicher nicht vorstellen konnte. Das schleswig-holsteinische Kinderschutzgesetz unterstreicht die Bedeutung, die dem Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Vergangenheit zu selten zukam und ruft dieses Anliegen nachdrücklich ins Gedächtnis. Es kann natürlich aber nicht alle Ungerechtigkeiten bekämpfen. In diesem Sinne erscheinen die einleitenden Paragraphen als sehr anspruchsvolle Ziele.

Die staatliche Gemeinschaft will junge Menschen in ihrer individuellen Entwicklung unterstützen. Konkret bedeutet das, dass Kinder und Jugendliche nach ihren Talenten und Befähigungen gefördert werden und nicht nach ihrer sozialen Herkunft. Das Kinderschutzgesetz ist lediglich als Auftakt einer nachhaltigen Politik zu verstehen. Es  wird sich erst in der Zukunft zeigen, welche Wirkung das Gesetz tatsächlich haben wird.

Spätestens die nächsten Haushaltsberatungen betrachte ich als Nagelprobe für einen effektiven Jugendschutz. In welcher Höhe werden Jugendarbeit, Präventionsarbeit und familiäre Bildungsarbeit veranschlagt werden? Die weitere Stabilisierung vorbildlicher Projekte, wie das Schutzengel-Projekt, muss  Anliegen eines Jeden werden, wenn er es denn mit dem Kinderschutzgesetz ernst meint. Wir werden bei den nächsten Haushaltsverhandlungen genau hinschauen, welche Mittel in den Haushalt eingestellt werden. Sollten diese gesenkt werden, würden damit all diejenigen Kritiker Recht bekommen, die das Gesetz als Sammlung schön getexteter Absichtserklärungen kritisieren. Ich bin gespannt!

Doch nicht nur die Finanzierung der genannten Maßnahmen möchte ich ansprechen. Der Teufel liegt wie immer im Detail. Genauer gesagt: je konkreter die einzelnen Paragrafen sind, desto mehr zeigen sich Probleme. Ich möchte hier drei Punkte exemplarisch anführen: die Kompetenz der Jugendämter, das Fehlen einer allgemeinen aufsuchenden Sozialarbeit und die Einrichtung einer Zentralstelle bezüglich der so genannten U-Untersuchungen.

Zunächst zu den Jugendämtern: Ich begrüße ausdrücklich die klaren Kompetenzen, die das Gesetz den Jugendämtern zuweist. Ich möchte hinzufügen: endlich. Im Jugendamt sollen zukünftig alle Fäden zusammenlaufen, so dass Koordinierungsprobleme gar nicht mehr auftreten können. Wenn wir uns vor Augen führen, dass der Tod des zweijährigen Kevin in Bremen auch dadurch geschehen konnte, weil sich mehrere öffentliche Stellen ohne konkrete Absprache aufeinander verließen, wird die Dringlichkeit einer klaren Kompetenz deutlich. Es liegt einfach auf der Hand, dass Lehrer, aber auch Erzieher oder Kinderärzte ihre Informationen und Beobachtungen einem zentralen Amt mitteilen müssen, wo erfahrene Pädagogen und Sozialarbeiter die angemessenen Entscheidungen zum Wohl des Kindes treffen. Das ist nun einmal das Jugendamt. Dessen Kompetenzen sind jetzt klarer. Wir werden sehen, wie sich das in den Kommunen ausgestaltet. Die konkrete Aufgabenbeschreibung der lokalen Netzwerke ist übrigens die Erledigung einer weiteren lang ausstehenden Hausaufgabe. Nun sind Aufgaben und Kompetenzen endlich klar benannt.

Allerdings warne ich davor, dass sich die Landesregierung mit Verweis auf die kommunalen Jugendämter oder die Netzwerke aus der Verantwortung zurückzieht. Kommunale Jugendarbeit in den Jugendämtern muss  personell solide ausgestattet sein; gerade wenn ihnen noch mehr Aufgaben aufgebürdet werden. Nur so können sie sich für den Einzelfall Zeit nehmen, was schließlich der Intention des Gesetzes entspricht.

Zum zweiten Punkt: der aufsuchenden Sozialarbeit. Der SSW  hat immer wieder eindringlich eine systematische aufsuchende Sozialarbeit gefordert. Deren Vorteile liegen auf der Hand: Sie diskriminiert niemanden, weil sie alle Familien erreicht, und eben auch die wohlhabenden, bei denen es durchaus auch Probleme geben kann. Auf diese Weise erleichtert sie aber auch die Annahme von Unterstützung. Ein flächendeckendes Netz aufsuchender Sozialarbeit ist allerdings noch in weiter Ferne. Stattdessen setzt das vorliegende Gesetz, wieder einmal, vorrangig auf Beratung und Information. Ich halte es für mehr als einen redaktionellen Fehler, dass in Paragraph 4 zwar Angebote zur Bildung und Beratung genannt werden, aber nicht zur Unterstützung; obwohl das in der Überschrift aufgeführt wird. Gerade bildungsfernen Eltern ist mit einer Beratung, womöglich noch in schriftlicher Form, wenig geholfen. Sie benötigen tatkräftige Unterstützung.

Es gibt Eltern, denen vor einer längeren Busfahrt bange ist, weil sie sich wo anders als im gewohnten Quartier nicht auskennen und sich deshalb kaum allein auf den Weg zu einer Beratungsstelle machen, die im anderen Stadtteil, geschweige denn im übernächsten Ort liegt. Eltern, denen jedes behördliche Schreiben erst einmal einen Schrecken einjagt, bevor sie mühsam versuchen, sich durchs Amtsdeutsch zu lesen. Das hat nichts mit Dummheit zu tun, sondern damit, dass  man nicht jeden Tag etwas mit Behörden zu tun hat. Broschüren sind also nicht das Mittel der Wahl, wenn es um das Kindeswohl geht. Genau darum ist die Arbeit der Familienhebammen vom Schutzengel-Projekt so wichtig und Bahn brechend, weil sie tatkräftig Unterstützung in den Familien leisten, und zwar direkt in den Wohnungen.

Eltern, die ihre Kinder nur unzureichend unterstützen, sind auf leistungsfähige Institutionen angewiesen, die ihnen unbürokratisch helfen und sie tatkräftig unterstützen. Davon ist im Gesetz nicht die Rede. Ich denke, dass wir hier genau hinschauen müssen, wie sich das Beratungsangebot in der Praxis darstellen wird. Das  sollten wir tun, damit es eben gerade nicht zur Inobhutnahme kommen muss.

Das letzte Problemfeld, das ich ansprechen möchte, ist die Einrichtung einer neuen Institution, die die Einhaltung der so genannten U-Untersuchungen registriert. Ich halte den Aufbau einer neuen Institution für nur die zweitbeste Lösung. Wir haben uns hier bereits mehrmals mit der Frage beschäftigt, wie es der Politik gelingen kann, dass alle Kinder von den Vorsorgeuntersuchungen profitieren. Eine neue Behörde, die das Jugendamt über die fehlende Inanspruchnahme der Untersuchungen informiert, ist sicherlich ein gangbarer Weg; aber eben nicht der beste Weg. Ich glaube ein „andocken“ beim öffentlichen Gesundheitswesen – den Gesundheitsämtern – wäre zielführender gewesen. Die Lösung, wonach die Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt kostenlos, die nachholende Untersuchung im Gesundheitsamt dagegen kostenpflichtig ist, erscheint mir zum Beispiel durchaus praktikabel. Insbesondere dann, wenn das Gesundheitsamt hier die Stelle gewesen wäre, die dieses überwacht. Dann hätte man die Problematik unter medizinisch-fachlichen Aspekten betrachtet und man hätte eben nicht eine neue „zentrale Stelle“ schaffen müssen. Aber sei’s drum; wichtig ist, dass  überhaupt etwas geschieht.

Das neue Gesetz betritt im wahrsten Sinne des Wortes Neuland. Die anderen 12 Bundesländer, die den Kinderschutz in ihre Verfassung geschrieben haben, haben es bislang noch nicht vermocht, ähnliches auf die Beine zu stellen. Dennoch  möchte ich vor davor warnen, nach der Verabschiedung des Gesetzes die Hände in den Schoß zu legen. So wie ich das Gesetz verstehe, beginnt jetzt erst die eigentliche Arbeit. Papier ist bekanntermaßen geduldig, das ist beim Kinderschutz nicht anders. Aber es ist gut, dass wir hier einen Schritt weiter kommen.

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