Rede · Flemming Meyer · 10.11.2005 Reform der Oberstufe und Verkürzung der Schulzeit

Es ist ja schon längst kein Geheimnis mehr, dass die Große Koalition uns im nächsten Jahr mit einer Änderung des schleswig-holsteinischen Schulgesetzes beglücken wird, die unter anderem eine Reform der gymnasialen Oberstufe und die Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium beinhaltet.

Bekannt ist auch - der Koalitionsvereinbarung von CDU und SPD sei Dank – dass man in Anlehnung an das baden-württembergische Modell vorhat, das Kurssystem zu verlassen, um zu einem Unterricht im Klassenverband zurückzukehren. Begleitet wird alles dies von der Neugestaltung der Abiturprüfung. – Gemeint sind ein viertes schriftliches Prüfungsfach und die Einführung des Zentralabiturs. Spätestens, wenn die Schulgesetz-Novelle dem Landtag in erster Lesung vorliegt, werden wir Gelegenheit haben, uns im Detail mit den genannten Punkten auseinanderzusetzen. – Wobei ich bezweifle, dass die Landtagsdebatte ähnlich kontrovers ausfallen wird wie die letzte intensivere Diskussion dieses Hohen Hauses zu dem Thema „Reform der gymnasialen Oberstufe“.

Laut Landtagsprotokoll ging es im Dezember 2003 um einen CDU-Antrag zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe. Auf den Vorwurf der Kollegin Eisenberg, dass mit dem Kurssystem die Abbrecherquote gestiegen sei und die Schüler der gymnasialen Oberstufe somit nicht ausreichend auf ein Studium vorbereitet werden, entgegnete die Ministerin, es sei erwiesen, dass das derzeitige Kurssystem den Wechsel an die Hochschule erleichtere. Der Schlüssel zu besseren Schulleistungen liege in der Verbesserung von Unterrichtsqualität und Lehrerausbildung und der Orientierung an klaren Leistungsstandards. Ohne der Debatte vorgreifen zu wollen, formuliere ich für den SSW daher schon jetzt die These, dass die anstehenden Änderungen der Oberstufe weniger mit „Schule“ als mit „Finanzen“ zu tun haben.

Vor diesem Hintergrund ist es lobenswert, dass sich die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag Gedanken darüber gemacht haben, wie denn die gymnasiale Oberstufe als Teil des Gesamtsystems Schule weiter entwickelt werden kann. Das ist aus Sicht des SSW ein richtiger Ansatz. Nur so erreichen wir, dass die Verteilung der Ressourcen „von unten nach oben“ gestoppt wird.  Und nur so wird es uns gelingen, die entscheidende Frage nach der gerechten Verteilung von Bildungschancen im Blick zu behalten.

Wir unterstützen also das Ansinnen der Grünen  -  nämlich mehr Schülerinnen und Schülern den Zugang zum Abitur zu öffnen. Der SSW ist der Meinung, dass in Schleswig-Holstein weitaus mehr junge Menschen in der Lage wären, die Hochschulreife zu erlangen als derzeit. Dass Schleswig-Holstein auch im Bundesvergleich eine niedrige Abiturientenquote hat, das hat uns ja sogar die neueste Pisa-Studie ins Stammbuch geschrieben. Dreh- und Angelpunkt ist daher auch aus Sicht des SSW der Ausbau der individuellen Förderung, und das möglichst frühzeitig. Das ist die beste Möglichkeit, auch Kindern aus sozial schwächeren Familien das Abitur zu ermöglichen.

Die andere Seite dieser Problemstellung ist meines Erachtens die drohende Zweiteilung des Abiturs, denn das klassische Gymnasium scheint weitgehend den höheren Töchtern und Söhnen vorbehalten zu bleiben, während Kinder weniger begüterter Eltern nicht auf dem Gymnasium, sondern in einer anderen Schulform das Abitur anstreben; zum Beispiel an den Berufsbildenden Schulen – am Fachgymnasium.  Der SSW beobachtet diesen Trend mit großer Besorgnis. Er führt letztlich zu weniger und nicht zu mehr Durchlässigkeit in unserem Schulsystem, und genau das wollen wir nicht.

Am gleichen Tag als die grüne Fraktion ihr Modell vorstellte, trat auch der Philologenverband an die Öffentlichkeit: mit seinem Modell der so genannten Profil-Oberstufe. Dieses Modell will die Quadratur des Kreises: vorgeschriebener Fächerkanon bei gleichzeitiger Wahlfreiheit. Da das nicht gelingen kann, soll es Profile geben, die die Wahlfreiheit einschränken. Dass es letztlich um die Vermeidung von Mini-Kursen geht, geben die Initiatoren unumwunden zu. Damit meine ich, dass die Neuordnung der gymnasialen Oberstufen nur dann als „Reform“ wahrgenommen wird, wenn deutlich wird, was der bildungspolitische Mehrwert der Änderungen ist. Und genau daran hapert es.

Sicherlich ist es angebracht – wenn es um die Reform des Gymnasiums geht – auch über die Stärkung von Kernkompetenzen nachzudenken. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, die Stärkung bestimmter Kernfächer als Stärkung der Allgemeinbildung zu verkaufen. Denn wie steht es dabei mit der Sozialkompetenz, die auch von der Wirtschaft immer wieder eingefordert wird? Unterschlagen wird bei solchen Überlegungen auch, dass die für ein Studium notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Arbeitstechniken grundsätzlich in allen Fächern vermittelt werden. Für ein erfolgreiches Studium sollten die Schülerinnen und Schüler vor allem gelernt haben, die eigene Arbeit selbständig zu organisieren und sich selbst zu motivieren. Dies kann am besten erreicht werden, wenn sie ihrer Begabung entsprechende Schwerpunkte setzen können.

Der SSW teilt daher die Auffassung der Grünen, dass die Einführung von zentralen Abschlussprüfungen die Weiterentwicklung des Gymnasiums konterkarieren wird. Es besteht die Gefahr, dass ein Zentralabitur den Unterricht steuern wird – und nicht umgekehrt. Überprüft man z.B. die Abituraufgaben der Länder mit Zentralabitur, stellt man fest, dass sie überwiegend „Wissen“ und „Anwendung“ prüfen. Diese Qualität der Aufgabenstellung ergibt sich zwangsläufig aus der zentralen Prüfung. – Oder anders formuliert: Bei unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ist der kleinste gemeinsame Nenner reproduzierbares Wissen.

Stattdessen müssen wir endlich eine grundlegende Reform der Schule in Angriff nehmen. Der SSW hat dazu seine Vorstellungen klar formuliert:  neun gemeinsame Schuljahre sind bei geeigneten Rahmenbedingungen eine gute Ausgangsbedingung für die weitere Schulkarriere. In diesen neun Jahren müssen alle Kinder gemäß ihren Fähigkeiten unterstützt werden. So etwas verdient den Namen Reform, weil sich grundlegend etwas ändert. Darüber hinaus schlagen wir vor, das zehnte Schuljahr entweder als Vorbereitung für die Oberstufe zu nutzen oder aber für den Realschulabschluss. Diese Gemeinschaftsschule räumt mit der frühzeitigen Selektion angeblich Leistungsstarker, die doch überwiegend sozial Starke sind, auf. So sieht in meinen Augen der richtige Weg aus, mit dem die Gradwanderung zwischen Förderung von mehr Schülern bei gleichzeitiger Qualitätssicherung gelingen kann.

Wir brauchen moderne Lerntechniken statt Abfragewissen. Selbständiges und projektbezogenes Arbeiten, fächerübergreifender Unterricht und individuelle Lernleistungen, zum Beispiel in Form von Wettbewerben, sind nicht nur eine gute Vorbereitung fürs wissenschaftliche Arbeiten im Studium, sondern auch für den beruflichen Alltag. - Ich möchte darauf hinweisen, dass das Abitur bei weitem nicht für alle Abiturienten auch in ein Studium mündet.

Im grünen Antrag ist die Rede davon, schwächeren Schülern Aufbaukurse anzubieten. Ich muss gestehen, dass ich erst bei einigem Nachdenken realisiert habe, wie so ein System aussehen kann. In der Konsequenz pendeln Schüler zwischen Kursen verschiedener Semester hin und her, um ihre Fächer abzudecken. Diese neue Struktur ist gut gemeint, verkompliziert aber ein bereits sehr kompliziertes System ohne Not noch mehr. Ich denke nicht nur, dass in einem derartig weit gespannten Netz über zwei bis vier Jahre der eine oder andere Schüler einfach verloren geht, sondern ich bin davon überzeugt, dass Eltern überhaupt keine Chance mehr haben, die Schulkarriere ihrer Sprösslinge ohne größere Anstrengungen verfolgen zu können. So ein System versteht zum Schluss gar keiner mehr.

Ich fasse zusammen:
Die Gymnasien, so wie sie jetzt sind, werden den modernen Anforderungen an ein demokratisches Schulsystem mit gleichen Teilhabechancen für alle, nicht gerecht. Daher sage ich für den SSW: für uns ist entscheidend, dass das Pferd der gymnasialen Oberstufe nicht von hinten aufgezäumt wird. Ein Abitur nach 12 Jahren macht nur Sinn, wenn die gesamte Struktur des Gymnasiums mit einbezogen wird.
Zu den Vorschlägen der Grünen hinsichtlich der Einrichtung von Oberstufenzentren und Oberstufenverbünden in diesem Zusammenhang nur ein paar Bemerkungen: Aus Sicht des SSW darf so eine Strukturänderung kein Tabuthema sein, denn nur so wird es möglich sein, Ressourcen frei zu bekommen für eine echte Reform der Oberstufe. Auch aus dem Grund ist es aus unserer Sicht notwendig, von einer ganzheitlichen Betrachtung von Schule auszugehen.

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