Rede · Jette Waldinger-Thiering · 25.02.2022 Unser Hebammenwesen ist vom Aussterben bedroht

„Wir müssen die strukturellen Probleme in der Geburtshilfe endlich mit tiefgreifenden Maßnahmen angehen und die Rahmenbedingungen grundlegend verbessern“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 20 - Geburtshilfe in Schleswig-Holstein stärken (Drs. 19/3628)

Ich denke, mit der Situation der Geburtshilfe in Schleswig-Holstein kann kaum jemand wirklich glücklich sein. Aus Sicht des SSW geht die Entwicklung zumindest seit Jahren in die falsche Richtung: Die Hebammen im Land arbeiten längst am Limit, immer mehr Geburtsstationen schließen und die Wege für viele werdende Eltern werden länger. Es lässt sich kaum leugnen, dass wir vor einer ganzen Reihe von Problemen stehen. Gleichzeitig wissen wir, dass viele Ursachen für diese Probleme struktureller Natur sind und nicht mal eben im Vorbeigehen gelöst werden können. Doch spätestens mit den traurigen Nachrichten aus Ratzeburg und Eckernförde ist für uns eines klar: Es ist dringend notwendig, ein Soforthilfeprogramm für die Geburtshilfe auf den Weg zu bringen und diesen wichtigen Bereich der Gesundheitsversorgung zu stärken. Denn so wie es bisher läuft, darf es nicht weitergehen. 

Für den SSW ist die Geburtshilfe zentraler Bestandteil der Daseinsvorsorge. Daraus folgt, dass wir uns konsequent für ein möglichst flächendeckendes Angebot einsetzen. Weil die aktuelle Entwicklung aber leider gegenläufig ist und weil wir ganz erhebliche Baustellen haben, ist der von uns und der SPD beantragte Aktionsplan dringend nötig. Für uns steht fest, dass wir die strukturellen Probleme endlich mit tiefgreifenden Maßnahmen angehen und die Rahmenbedingungen grundlegend verbessern müssen. Denn auch der Bereich der Geburtshilfe wird auf absehbare Zeit stark vom Fachkräftemangel betroffen sein. Gleichzeitig stehen nicht nur Krankenhäuser mit belegärztlicher Geburtshilfe oder Häuser mit geringen Geburtenzahlen unter erheblichem finanziellem Druck. Auch unsere Level-4-Perinatalzentren sind durch Nichtberücksichtigung der Vorhaltekosten deutlich unterfinanziert. Noch dazu ist unser Hebammenwesen durch die unverhältnismäßig hohen Prämien zur Berufshaftpflichtversicherung vom Aussterben bedroht. 

Wir haben diese Probleme und die bestehenden Fehlanreize mehrfach diskutiert. Zuletzt im Zusammenhang mit dem Bericht zur Geburtshilfe im Herbst letzten Jahres. Allen sollte klar sein, welche unsinnigen Gründe zum Beispiel für die erhöhte Kaiserschnittrate in Deutschland sorgen. Wir wissen längst, dass diese Eingriffe immer öfter aus wirtschaftlichen und nicht aus medizinischen Erwägungen heraus passieren. Sie sind planbar und entzerren damit das Geburtsgeschehen. Dabei ist ein Kaiserschnitt aber nicht nur teurer, sondern führt auch zu einer längeren Verweildauer und die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen ist höher. Doch diese Nachteile für Mutter und Kind spielen eine immer geringere Rolle. Denn diese Kosten werden über andere DRG-Gruppen abgedeckt. Im Ergebnis erhalten Arzt und Krankenhaus bei einem Kaiserschnitt binnen 20 bis 30 Minuten erheblich mehr Geld als bei einer natürlichen Geburt, die häufig Stunden dauert. Aus unserer Sicht ist das der absolute Irrsinn und muss durch eine grundlegende Reform der Finanzierung geheilt werden.

Was im gesamten Gesundheitsbereich gelten muss, ist für die Geburtshilfe besonders wichtig: Nicht der höchstmögliche Gewinn, sondern die bestmögliche Versorgung der Menschen muss im Vordergrund stehen. Deshalb brauchen wir ganz grundsätzlich eine Veränderung bei der Vergütung von Leistungen im Rahmen der Geburtshilfe. Deshalb fordern wir kurzfristig die Einführung eines Personalschlüssels, der eine 1:1 Betreuung durch Hebammen während der gesamten Geburtsphase ermöglicht. Deshalb fordern wir mittelfristig Pläne zum Ausbau hebammengeleiteter Kreißsäle und die Vergütung ambulanter, aufsuchender Geburtsvor- und Nachsorge für angestellte Hebammen an Kliniken. Und deshalb fordern wir die langfristige Finanzierung der Boardingkonzepte im Sinne derjenigen werdenden Mütter, die beispielsweise auf den Inseln und Halligen leben und damit weite Wege zum nächsten Kreißsaal haben. 

Es ist Fakt, dass in den letzten 10 Jahren ein Viertel aller Kreißsäle im Land geschlossen wurde. Man kann durchaus bezweifeln, dass das immer nur aus Gründen der Qualitätssicherung geschehen ist. Aber wir stehen damit an einem Punkt, an dem vielen werdenden Eltern zu viel zugemutet wird. Deshalb ist es gut und wichtig, dass sich auch die Koalition im Bund auf die zentralen Ziele des vorliegenden Antrags vereinbart hat. Aber entscheidend wird sein, dass wir in Sachen Geburtshilfe in Bund und Land an einem Strang ziehen und zu einem echten Paradigmenwechsel kommen. Weg von einer immer stärkeren Ökonomisierung und Zentralisierung und hin zu einer Versorgungslandschaft, die auch langfristig sichere Geburten in ganz Schleswig-Holstein möglich macht.

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