Rede · Lars Harms · 23.02.2022 Versorgung von Kindern psychisch kranker Eltern: Wir brauchen Prävention, Familienhilfe und echte Krisenintervention

„Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder psychisch kranker Eltern selbst erkranken, ist so stark erhöht und ihre Zahl so groß, dass wir dringend eine stärkere Unterstützung für diese Gruppe brauchen“

Lars Harms zu TOP 27 - Versorgung Kinder psychisch kranker Eltern (Drs. 19/3643)

Kaum etwas ist wichtiger für Kinder als verlässliche Beziehungen zu anderen Menschen. Allen voran natürlich zu ihren Eltern. Ob Kinder die Erfahrung von stabilen Bindungen zu ihrem Umfeld machen oder nicht, ist oftmals entscheidend für ihren gesamten Lebensverlauf. Im Idealfall geben Eltern ihren Kindern Halt und Sicherheit durch verlässliche Strukturen, an denen sich die Heranwachsenden orientieren können. Hierzu zählen Alltagsroutinen und sinnvolle, nachvollziehbare Regeln für das Familienleben, aber auch das Aufzeigen von Grenzen. Viele Kinder von psychisch kranken Eltern haben diesen verlässlichen Rahmen nicht. Oder sie machen diese wichtigen Erfahrungen zumindest nur zeit- oder teilweise. Wir wissen, dass die Auswirkungen oder Belastungen, die daraus entstehen können, vielfältig sind. Nicht jedes Kind psychisch kranker Eltern wird selbst krank. Und doch ist die Wahrscheinlichkeit hierfür so stark erhöht und die Zahl der Betroffenen so groß, dass wir unbedingt eine stärkere Unterstützung für diese Kinder brauchen. 

Vor diesem Hintergrund ist für uns vom SSW völlig klar, dass wir den Antrag der Jamaika-Koalition mittragen. Und zwar nicht zuletzt, weil die Belastungen und der Hilfebedarf vieler Familien im Zuge der Pandemie immer weiter zunehmen. Das gilt natürlich auch für Familien, in denen ein Elternteil an einer psychischen Erkrankung wie etwa einer Depression oder einer Suchterkrankung leidet. Auch sie standen in den vergangenen zwei Jahren unter einem erhöhten Druck. Wir befürchten daher, dass sich die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern derzeit eher zuspitzt als entspannt. Und wenn wir ehrlich sind, ist deshalb sehr wahrscheinlich nicht nur die geforderte Erhebung der Versorgungssituation dieser Kinder wichtig. Was wir brauchen, ist eine verstärkte Prävention, verlässliche Familienhilfe und oftmals auch echte Krisenintervention für diese Familien. Und das besser heute als morgen. 

Der vorliegende Antrag zeigt im Grunde bereits auf, wie groß die Herausforderung ist. Bundesweit wachsen 3,8 Millionen Kinder mit mindestens einem Elternteil auf, das zumindest zeitweise psychisch erkrankt ist. Dies und die Tatsache, dass Studien zufolge bis zu 77 Prozent dieser Kinder selbst erkranken, ist aus meiner Sicht schockierend. Viele dieser Kinder und Jugendlichen leiden still und unerkannt. Längst nicht alle betroffenen Eltern lassen sich behandeln. Wir können also nur erahnen, wie groß der tatsächliche Hilfebedarf ist. Aber wir fangen auch nicht bei null an. Zumindest an ausgewählten Orten bietet das Netzwerk für psychisch kranke Eltern und ihre Kinder seit einigen Jahren Hilfe an. Und auch unser engagierter Kinderschutzbund hier in Schleswig-Holstein hat sich dieses wichtige Thema längst auf die Fahnen geschrieben. Das zeigt, dass diese Kinder nicht immer und überall allein sind. Und auch wenn es deutlich ausbaufähig ist, bin ich dankbar dafür, dass es entsprechende Eltern-Kind-Behandlungsangebote gibt. 

Durch die Pandemie wird das Leben vieler belasteter Familien zunehmend zur Black Box. Selbst die Familienhilfe weiß häufig nicht mehr, mit welchen Problemen Eltern und Kinder in ihrem Zuhause konfrontiert sind. Da macht es durchaus Sinn, sich auch einen genauen Überblick über die Versorgungssituation von Kindern psychisch kranker Eltern zu machen. Wenn ich mir aber ganz allgemein den extrem gestiegenen Bedarf an Psychotherapie anschaue, würde es mich sehr wundern, wenn nicht auch die Versorgung dieser Kinder gestärkt werden muss. Ich will der Erhebung, die sich die Koalition wünscht, nicht vorgreifen. Aber ich möchte gerne an eins erinnern: Kinder psychisch kranker Eltern haben erwiesenermaßen ein erhöhtes Risiko, unter Gewalt, körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung zu leiden. Und wir sind mindestens mitverantwortlich, wenn es darum geht, diesen Kindern ein gewaltfreies Aufwachsen zu ermöglichen. 

Ich will nicht missverstanden werden und wäre natürlich froh, wenn ich eines Besseren belehrt werde. Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht zu naiv sein. Auch in der Antragsbegründung wird darauf verwiesen, dass die betroffenen Kinder vielfältigen und häufig chronischen Belastungen ausgesetzt sind. Für das erklärte Ziel einer perspektivisch guten und zielgruppengerechten Versorgung sind entsprechend vielfältige und vor allem flächendeckende Angebote nötig. Und zwar passgenau, für Eltern wie Kinder gleichermaßen und unbedingt auch präventiv. Und hier sehen wir schon heute deutlich Luft nach oben. 

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