Tale · Flemming Meyer · 13.10.2006 Frühförderung in Schleswig-Holstein

Bei fast allen Formen der Behinderungen gilt das Gebot der möglichst frühzeitigen Diagnostik. Wissen die Eltern um die Einschränkungen, den Verlauf, aber auch um die Fördermöglichkeiten, führt das zur erheblichen Entspannung im familiären Alltag. Ich denke da nur an die Diagnose Hyperaktivität, die es Eltern ermöglicht, nicht länger den unzureichenden Charakter für die gefühlten Störungen im Familienbetrieb als Auslöser zu sehen, sondern ein medizinisch behandelbares Syndrom.

In der besten aller Welten werden Behinderungen und Beeinträchtigungen möglichst frühzeitig erkannt. Fördermöglichkeiten werden in ein einheitliches Konzept eingepasst, das Eltern, Geschwister und nicht zuletzt das betroffene Kind selbst vor unliebsamen Überraschungen schützt. Diese Idealvorstellung der Förderung aus einer Hand, die passgenau auf die Bedürfnisse des Einzelfalles abgestimmt ist, sollte das Ziel der Frühförderung sein. Die Realität sieht allerdings völlig anders aus.

Der Landkreis Nordfriesland hatte im Februar dieses Jahres zu einem Workshop „Frühe Förderung“ ins Kreishaus geladen. Die insgesamt 192 Teilnehmer wurden gebeten, ihre Wünsche und Forderungen in einem Satz schriftlich festzuhalten. Allein schon die große Zahl der Teilnehmer legt die Vermutung nahe, dass das Angebot in Nordfriesland sehr weit verzweigt ist. Nur die wenigsten Teilnehmer beschäftigten sich ausschließlich mit der Frühförderung. Für Physiotherapeuten oder Erzieherinnen stellt sie zwar einen wichtigen Baustein ihre Arbeit dar, ist aber eben nur ein Teil. Die überwiegende Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer fordert eine bessere Verzahnung der Angebote ein. Die genauen Angebote kann jeder Interessierte im Protokoll nachlesen, das im Internet veröffentlicht wurde. „Abbau von Kompetenzgerangel“, „Einbindung der Eltern“, „Mehr Zeit für Kooperation mit anderen Einrichtungen“, sind nur einige der Forderungen der nordfriesischen Fachleute. Keineswegs handelt es sich um einen Einzelfall. Ich denke, dass ähnliche Veranstaltungen in anderen Kreisen ähnlich aussehen.

Es gibt in keinem Landkreis eine Anlaufstelle - kein Amt für Frühförderung. Stattdessen werden alle Betroffenen an mindestens drei oder vier Stellen verwiesen. Dort werden die Syndrome der Behinderung institutionengerecht klein gehackt und nach Kostenaspekten ausgerichtet. Das führt gerade bei komplexen Problemfällen zur Verschärfung des Problems.

Die Landesregierung führt wider besseres Wissen aus, dass behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder in den Frühförderstellen „alle notwendigen und erforderlichen Hilfen und Leistungen“ erhalten (Bericht, Seite 10 oben). So fallen immer wieder Betroffene durch das Kompetenznetz der unterschiedlichen Kostenträger und Professionen. Die Landesregierung weiß um diese Probleme und schreibt im Bericht „Früher wahrnehmen – schneller Handeln – zum Wohle unserer Kinder“ ausdrücklich, dass die Frühförderstellen nicht interdisziplinär ausgerichtet sind (Seite 16). Zum anderen haben es Neuerungen oder neue Therapieansätze in diesem System besonders schwer, sich durchzusetzen. Ein Beispiel unter vielen sind Deckenliftsysteme, die seit einigen Jahren auch für Privatleute angeboten werden. Diese Lifter unterstützen Eltern von Kindern, die ständig gehoben werden müssen. Deckenlifter schaffen es zwar in den Hilfsmittelkatalog, aber trotzdem kaum in die betroffenen Haushalte. Es fehlt die Aufklärung, aber auch die Bereitschaft der Krankenkassen, in Umbauten zu investieren, obwohl sie damit erheblich sparen können.

Von einer Bereitstellung aller Hilfen kann also keineswegs die Rede sein. Komplexleistungen, das räumt die Ministerin selbst ein, stoßen auf „Schwierigkeiten“ (Seite 8). Integrierte Angebote mit der Beteiligung mehrerer Kostenträger werden nicht in gewünschtem Maße erbracht.
Doch bereits bei einfachen Maßnahmen gibt es Schwierigkeiten. Die Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein weist auf die Folgen der Obergrenzen hin. Ärzte müssen die jeweiligen Einzeldiagnosen jetzt bestimmten Diagnosegruppen zuordnen, für die verbindliche Vorgaben bezüglich der maximalen Anzahl der Heilmittelanwendungen einzuhalten sind. Im Klartext: Bei Logopädie und Ergotherapie werden maximal 10 Behandlungen auf einmal verschrieben. Wenn eine bestimmte Obergrenze erreicht ist, muss der Patient in der Regel 12 Wochen pausieren, bevor der Arzt wieder neue Therapien verordnen kann.

Die Eltern werden durch dieses Verfahren zu Bittstellern degradiert, die sich überaus komplizierten Antragsverfahren ausgesetzt sehen. Durch die Behinderung des eigenen Kindes belastet, geben nicht Wenige auf dem langen Weg durch den Zuständigkeitsdschungel auf.
Andere kapitulieren schon viel früher. Für Eltern in problematischen Lebenssituationen ist die Behinderung eines Kindes eine große, zusätzliche Belastung, vor der sie die Augen verschließen; nach dem Motto: was ich nicht sehe, gibt es auch nicht. Termine beim Kinderarzt werden vergessen und Hinweise von Pädagogen aus dem Kindergarten schlichtweg ignoriert. Die Kollegen von der grünen Fraktion haben dankenswerterweise einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, damit alle Kinder eine möglichst frühzeitige Förderchance haben: die obligatorische Untersuchung aller Zweijährigen. In Nordfriesland geht Schulärztin Grit Karhan davon aus, dass in jedem Jahr etwa 200 Kinder vor der amtsärztlichen Untersuchung zur Einschulung kaum oder gar nicht beim Kinderarzt waren. Jedes zweite Kind davon, also jährlich etwa 100 Kinder allein in Nordfriesland, haben einen unentdeckten Förderbedarf. Hier wurden Lebenschancen verspielt. Bei diesen Kindern kommt eine Frühförderung gar nicht mehr in Frage. Wichtige Entscheidungsfenster haben sich geschlossen. Ich möchte aber keine Schulddebatte anzetteln, denn oftmals sind die Eltern schlichtweg überfordert.

Das Gesagte gilt ausdrücklich auch nur für Familien, deren Kind in der Familie verbleibt. Leben Kinder dagegen in einer Einrichtung, werden dort nicht nur alle Hilfen aus einer Hand erbracht, auch die Frage nach der Kostenträgerschaft stellt sich nicht mit jeder neuen Förderungsmaßnahme neu.

Wir haben es beim Thema Frühförderung also mit zwei Problemfeldern zu tun: der unzureichenden Vernetzung von Einrichtungen, Kostenträgern und Angeboten sowie der Elternferne der Frühförderung. Beide Komplexe streift der Bericht, ohne Abhilfe zu versprechen. Die Frühförderung ist ein gewachsenes System. Dafür spricht überdeutlich die Tatsache, das weder Krankenkassen noch Kommunen die Höhe der Kosten für die Frühförderung genau beziffern können (Seite 9).

Was tun? Der SSW unterstützt ausdrücklich alle Bemühungen der Landesregierung für das Zustandekommen einer neuen Rahmenvereinbarung. Dass alle Träger sich zusammensetzen und verbindliche Verfahren vereinbaren, begrüßen wir ausdrücklich. Ziel dieser Verhandlungen sollte aber eindeutig die Verbesserung der Situation von Kindern und Eltern sein – und hierbei sollte das Ziel „Alles aus einer Hand“ nicht aus den Augen verloren werden.

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