Tale · Flemming Meyer · 17.05.2005 Gedenken an den Völkermord an den Sinti und Roma

Rede zur Veranstaltung im Hiroshimapark in Kiel zum Gedenken an den 16.Mai 1940, an dem mehr als 2000 Sinti und Roma aus Norddeutschland deportiert wurden.


Die Erzählungen von Wolfdietrich Schnurre werden heute nur noch in der Schule gelesen, denke ich. – Was schade ist, da er als Mitbegründer der so genannten Gruppe 47 zu den deutschen Schriftstellern gehörte, die sich nach 1945 um eine Aufarbeitung der NS-Zeit bemühten. Von ihm stammt die Aussage: „Verschwiegenheit werde zu Recht als eine Tugend betrachtet. Das gleiche gelte unter Umständen auch noch für Schweigsamkeit, fürs Verschweigen aber gar nicht.“
Z
u seinen Erzählungen gegen das Verschweigen – oder gegen das Vergessen – gehört die kleine Geschichte „Jenö war mein Freund“. In dieser Geschichte, die ungefähr 1940 spielt, wird mit viel Humor über die Freundschaft von zwei Jungen erzählt. Es geht dabei um die Überwindung von kulturellen Unterschieden, denn Jenö ist Zigeuner. – Und es geht darum, dass die Verfolgung der Zigeuner kein „Betriebsunfall“ war. Der Nährboden der Diskriminierung war schon lange vorher geschaffen worden. Wolfdietrich Schnurres Erzählung endet damit, dass Jenö und seine Familie von den Nazis abgeholt – deportiert - werden. Das geschieht „einfach so“. Und nur wir, die Erwachsenen, wissen, was ihnen später geschah.

Am 16.Mai 1940 – gestern vor 65 Jahren also – begann die „Umsiedlung der Zigeuner“, der Abtransport in den Osten, wie der Befehl Heinrich Himmlers vom 27.4.1940 lautete. Sie wurden über den Fruchtschuppen an der Baakenbrücke im Hamburger Hafen in die Vernichtungslager der Nazis deportiert, denn dort hatte man ein provisorisches Sammellager für alle norddeutschen Sinti und Roma eingerichtet. Der damals elf Jährige Gottfried Weiß erinnert sich: „Der ganze Platz wurde von den SS-Männern, Gestapoleuten und Polizisten umzingelt, und wir wurden morgens aus den Betten geholt. Uns wurde erzählt, dass wir umgesiedelt werden, wir sollten nichts mitnehmen. Die sagten uns, dass wir dort alles vorfänden und nichts mit-nehmen brauchten. Die Erwachsenen ahnten aber nichts Gutes und sagten: “Lasst uns mal das Notwendigste für die Kinder mitnehmen.“

Das ist der geschichtliche Hintergrund dafür, dass wir heute hier zusammen stehen. Wir wissen aber auch, dass die Diskriminierung der in Deutschland lebenden Sinti und Roma nach 1945 nicht aufhörte. – Der unwürdige Kampf um eine finanzielle Entschädigung ist dabei nur ein Aspekt. Ein weiterer ist, dass die rassenbiologischen Forschungen der Nazi-Ärzte den Grundstein für die heutige Genforschung legten, und dass die traditionellen Vorurteile gegen die „Zigeuner“ auch heute noch in den Köpfen von Menschen herumgeistern. – Dass daraus Wahrheiten werden, die in ihrer Konsequenz zur Verfolgung von Minderheiten führen, darf dabei niemals vergessen werden.

Als wir vor gut einer Woche – am 8.Mai – den 60.Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung Deutschlands von den Nazis feierten, ging es auch um die Opfer der NS-Diktatur, denn wer die Geschichte nicht kennt, ist bekanntlich dazu verdammt, sie zu wiederholen. In diesem Zusammenhang hat der frühere Bundespräsident Richard von Weizäcker einmal gesagt, das Gedenken an die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945 stelle große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit. Und eben diese Wahrhaftigkeit gebietet uns, nicht zu verschweigen, dass der an Sinti und Roma begangene Völkermord in der Bundesrepublik über Jahre verschwiegen wurde. Hinzu kam, dass die Überlebenden der Entwicklung in Nachkriegsdeutschland weitgehend ohnmächtig gegenüber standen. Es gelang ihnen meist nicht, Anschluss an das neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zu finden, und so wurden sie zu einer weitgehend vergessenen und chancenlosen Minderheit.

Erst als Sinti und Roma begannen, sich zu organisieren und ihre Sache selbst in die Öffentlichkeit zu tragen, veränderte sich ihre Situation. Seit Ende der 70er Jahre sucht eine in den Reihen der Sinti und Roma entstandene Bürgerrechtsbewegung die Bevölkerung aufzurütteln, um so an das ihnen gegenüber begangene Verbrechen zu erinnern.
Und erst 1982 stellt die Bundesregierung unmissverständlich fest: „Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassistischen gründen verfolgt, und viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen sind als Völkermord ... anzusehen.“

Angesichts der jahrzehntelangen Verdrängung des nationalsozialistischen Völkermordes an 500 000 Sinti und Roma ist es bedauerlich, dass wir nicht schon in diesem Jahr, sondern erst 2006 in Berlin ein Mahnmal für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma erhalten werden. Ich möchte vor diesem Hintergrund ausdrücklich an den Zentralrat der Sinti und Roma und an die Sinti Allianz appellieren, sich über den Wortlaut einer Inschrift zu verständigen, damit das Mahnmal dann auch ohne weitere Verzögerung verwirklicht werden kann. Das schulden wir den Opfern und ihren Angehörigen.

Als Vertreterin der dänischen Minderheit ist es mir eine besondere Ehre, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Die Zusammenarbeit zwischen den vier in der Bundesrepublik anerkannten nationalen Minderheiten zeigt, wie vielfältig Minderheitenpolitik heute ist. Gemeinsam sind wir stark, wissen wir. – Wir wissen aber auch, dass es noch viel zu tun gibt. – Nicht nur die unterschwellige Diskriminierung der Medien den Sinti und Roma gegenüber ist weiterhin ein Thema. Zu unseren gemeinsamen minderheitenpolitischen Zielen gehört die Forderung, dass auch die Minderheit der Sinti und Roma in die Schleswig-Holsteinische Landesverfas-sung aufgenommen werden muss. An die Erfüllung dieser Zielsetzung werden wir auch die neue Große Koalition im Kieler Landeshaus messen.

Eine Grundgesetzänderung auf Bundesebene, um den Schutz nationaler Minderheiten bun-desweit sicher zu stellen, steht ebenso auf unserer gemeinsamen Agenda. Doch letztlich ist uns allen bewusst, dass Verfassungsänderungen und Gesetze insgesamt nur so gut sind, wie sie gelebt werden. Und genau aus dem Grund ist es wichtig, nicht zu schweigen.

Und gerade, weil 2005 ein Jahr der Jubiläen ist, lassen Sie mich zum Schluss auch noch mal daran erinnern, dass wir Ende März diesen Jahres das 50 jährige Jubiläum der Bonn-Kopenhagener Erklärungen feierten. Dabei ging es um die Rechte der beiden Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzland, der deutschen in Dänemark und der dänischen hier in Schleswig-Holstein. Kernpunkt dieser beiden parallelen Erklärungen ist die Aussage, das Minderheiten Teil der Gesellschaft sind, in der sie leben.

Minderheitenpolitik ist somit Gesellschaftspolitik und keine Wohltätigkeitsveranstaltung. Minderheitenpolitik ist mit anderen Worten immer auch ein Gradmesser für den Zustand der Demokratie. Und genau das muss weiterhin der Maßstab für die Minderheitenpolitik unseres Landes sein.

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