Tale · Flemming Meyer · 20.11.2013 Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität 1945 in Legislative und Exekutive

„Es geht darum, die Mechanismen zu erkennen, wie durch Kumpanei, falsche Rücksichtnahme und Gedankenlosigkeit der Demokratie Schaden zugefügt wurde.“

Niedersachsen, Hessen, Bayern, Baden-Württemberg: dort setzen sich die Landtage bereits mit ihrer Vergangenheit auseinander oder haben entsprechende Beschlüsse gefasst. Nun wollen wir uns heute einreihen, indem wir fraktionsübergreifend das Startsignal für die Analyse der Situation in Schleswig-Holstein geben.
Dass dazu fast zwei Generationen vergehen mussten, hat auch etwas mit der Mentalität des Verdrängens und des Verschweigens zu tun. Jetzt ist der Abstand für eine offene Betrachtung und eine systematische Aufarbeitung gegeben. Das bedeutet nicht, dass das angestrebte Vorhaben leicht wird. Die Wiedereinstellung von Nazis in die Landesregierung und ihre Präsens in den Parteien unseres Landes waren ein schwerer Nachkriegsfehler und eine Bürde für unser demokratisches Gemeinwesen. Wir wissen, dass sich der Landtag schwer getan hat, sich diesem Thema zu stellen. Allzu früh sollte das Thema abgehakt werden. Schon 1951 verkündigte der damalige Innenminister Paul Pagel den Schlussstrich unter die Entnazifizierung. Die Nazis galten im Land als überschaubare Gruppe mehr oder weniger Verrückter denen der nicht-informierte Rest nur hinterher gelaufen war. Damit war das Thema erledigt. In diesem geistigen Klima standen Politik und Kultur in Schleswig-Holstein lange Jahre und Jahrzehnte. Das war wie ein brauner Schatten, der sich übers Land legte. Schleswig-Holstein spielte eine unrühmliche Rolle als Schlupfwinkel für Nazis und für deren Rehabilitierung. Wir hatten Landeskabinette, in denen die Mehrheit der Minister Mitglied in der NSDAP war, und einen öffentlichen Dienst, der mehr oder weniger unbeschadet - bis auf wenige Pensionskürzungen - die Entnazifizierung überstanden hat. Wie groß war der Einfluss alter Nazis? Wie weit war das neue, demokratische Schleswig-Holstein durch NS-Gedankengut geprägt? Diese Fragen harren der Antwort.


Allerdings geht es nicht darum, wer, wann was gesagt oder eben nicht gesagt hat, sondern darum, die Mechanismen zu erkennen, wie durch Kumpanei, falsche Rücksichtnahme und Gedankenlosigkeit der Demokratie Schaden zugefügt wurde. In den Jahrbüchern Demokratische Geschichte sind die entsprechenden Passagen in Auszügen der Landtagsprotokolle nachzulesen. Erst in den achtziger Jahren hat sich der Landtag systematisch mit diesem Thema beschäftigt; als mehr oder weniger alle ehemaligen Nazi-Parteigänger pensioniert oder gestorben waren.
Doch es geht nicht um persönliche oder politische Aufrechnung. Es gibt in dieser Sache keine Gewinner und Verlierer. Wir wollen kein Gefälligkeitsgutachten, das einen Bogen um peinliche Befunde macht. Für den SSW gilt als oberste Maxime die wissenschaftliche Unabhängigkeit. Darum sind im Antrag ausdrücklich nur Fragen angeführt und auf weitere Vorgaben wurde verzichtet. Natürlich muss die wissenschaftliche Arbeit den wissenschaftlichen Standards entsprechen und ich wünsche mir einen auch für Laien lesbaren Abschlussbericht, damit ihn möglichst viele Bürgerinnen und Bürger lesen werden. Die Politik darf aber keinesfalls inhaltlich in diese Forschung eingreifen. Aus dem politischen Auftrag ergibt sich nämlich keine politische Aufsichtsfunktion. Davor möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich warnen.
Was die Aufarbeitung bringen soll, ist die Aufdeckung von Mechanismen. Wie hat der demokratische Staat den Übergang von einer Diktatur geregelt, wie ist er mit individueller Schuld umgegangen? Die Antworten auf diese Fragen werden uns auch heute helfen; und zwar nicht nur im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Demokratie darf sich nämlich nie sicher wähnen. Die deutsche Demokratie ist ja keine Demokratie, die lediglich Spielregeln vorschreibt. Wer sich also an die Regeln hält, der verhält sich automatisch demokratisch? Wir haben aus der Nazizeit gelernt, dass unsere Demokratie nicht ohne politische Werte funktioniert, allen voran die Würde des Menschen. Wir sind eine wehrhafte Demokratie, die jeden Tag für die Menschenrechte kämpft und darum miteinander ringt, weil sich die Verhältnisse eben verändern und nicht stehen bleiben. Das ist streitbar im besten Sinne des Wortes. Parteien, die diese obersten Werte missachten und mit demokratischen Mitteln die Demokratie selbst abschaffen wollen, müssen in Deutschland damit rechnen, verboten zu werden.
Doch wie ist es, wenn wir es nicht mit Parteien, sondern mit Einzelnen zu tun haben? Haben es tatsächlich Menschen mit NS-Vergangenheit tatsächlich geschafft in der Demokratie anzukommen ? Hat man sich möglicherweise seine ganz persönlichen Fehler eingestehen können? Oder gab es doch weiterhin mehr Wölfe im Schafspelz als uns allen lieb sein konnte?
Die Antworten auf diese Fragen können helfen, für die Zukunft Lehren daraus zu ziehen und vielleicht sogar in anderen Ländern zur Problembewältigung beizutragen. Schon allein aus diesem Grund lohnt es sich, dass wir die Vergangenheit aufarbeiten.

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