Speech · 27.08.1996 Gewalt gegen ältere Menschen

Über eines sind wir uns einig. Es geht nicht lediglich darum, Menschen anzuprangern, die alten Menschen durch körperliche, emotionale oder finanzielle Mißhandlung oder Vernachlässigung Schaden zufügen. Die Gewalt in Pflegebeziehungen ist eine janusköpfige Gestalt. Die Ursache, die “Schuldfrage” läßt sich selten simpel und einwandfrei klären. Schelchte Arbeitsbedingungen überfordern die Pflegepersonen und reduzieren ihre Belastbarkeit. Außerdem können ältere Menschen auch selbst durch überhöhte Erwartungen, Verständnislosigkeit, Frustration, Verwirrtheit und sogar auf Grund von Krankheit, physiologischen Mangelzuständen oder Medikation maßgeblich mit Aggressionen und Gewalttätigkeit beitragen.

Nichtsdestotrotz liegt der Schlüssel zur Deeskalation maßgeblich bei den Pflegenden. Professionelle Pflegende können durch Erfahrungsaustausch sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sensibilisiert werden. Sie müssen lernen, ihre eigenen Aggressionen zu kontrollieren, deren Ursachen zu erkennen und mit den Aggressionen anderer umzugehen. Berufliche Bildungsmaßnahmen müssen aber bei weitem nicht auf das Thema Gewalt beschränkt sein. Häufig wäre schon eine Schulung hinsichtlich der spezifischen Probleme der alten Menschen ein gewichtiger Beitrag zu Verständnis und größerer Professionalität - und damit auch zur Gewaltprävention. Dieses gilt zum Beispiel für gerontopsychiatrische Qualifikationen, an denen es viel zu häufig noch mangelt.

Das Phänomen der Mißhandlung älterer, pflegebedürftiger Menschen ist insbesondere auch in pflegenden Familien vorhanden, weil sich dort Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse verkehren können. Häufig sind alte seelische Wunden vorhanden, die bei der beiderseitigen psychischen Belastung durch die Pflegesituation aufreißen. Deshalb ist der Beistand für die pflegenden Frauen durch entlastende Dienstleistungen, Fortbildung und Beratung eine besondere Notwendigkeit. Angebote für pflegende Angehörige sind bisher aber nur in sehr unzureichendem Umfang vorhanden und zum Teil nicht über die Modellphase hinausgekommen. Auch hier bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, vor allem einer Erweiterung des Angebots und einer finanziellen Absicherung der psychsozialen Maßnahmen.

Für das relativ neue Thema “Gewalt gegen ältere Menschen” - es ist als soziales Problem erst in den späten 80er Jahren “entdeckt” worden – muß noch viel öffentlichkeitswirksame Arbeit stattfinden. Es ist der Verdienst der heutigen Initiative, die Gesellschaft auf dieses Problem aufmerksam machen zu wollen. Die Mißhandlungen älterer Menschen können nur wirksam bekämpft werden, wenn sie auch gesellschaftlich thematisiert und verurteilt werden. Erst dann werden Fachkräfte und Mitmenschen ihr Schweigen brechen und Gewalttätigkeit anprangern, ohne negative persönliche Konsequenzen fürchten zu müssen.

Ich teile also die Auffassung, daß das Problem durch Sensibilisierung und Bildungsarbeit gemildert werden kann. Allerdings werden Fortbildung und Supervision allein nicht ausreichen. Wer sich mit der Mißhandlung älterer Menschen durch Pflegende beschäftigt, muß sich auch intensiv mit den Arbeitsbedingungen in der Pflegenden auseinandersetzen. Mängel in der Ausbildung, Personalmangel, schlechte Bezahlung, schlecht organisierte Arbeitsläufe, Hierarchien, fehlende Zeit für persönliche Zuwendung und mangelhafte Einflußmöglichkeiten der HeimbewohnerInnen sind Faktoren, die zu Überforderung und Gewalt beitragen können.
Diese Probleme und entsprechende Lösungs-Konzepte sind hinreichend in der Gerontologie, in politischen Programmen und in Landesaltenplänen vorhanden. Allein: an der Umsetzung hapert es. Seit Jahren, beispielsweise, spricht man in Absichtserklärungen von “ganzheitlicher Pflege”. Die Praxis - nicht zuletzt die Pflegeversicherung, die offensichtlich mit der Stoppuhr erstellt wurde - spricht diesem aber Hohn. Wer die Ursachen der Gewalt gegen ältere Menschen beseitigen will, wird letzten Endes nicht um zusätzliche gesetzliche Regelungen und Investitionen für die Altenhilfe herumkommen.

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