Tale · Flemming Meyer · 11.09.2002 Grundsicherung im Alter

In der Bundesrepublik wird seit Jahrzehnten darüber gesprochen, dass es auch in unserem Land Armut gibt. Die bisherige soziale Sicherung hat offensichtlich ihr Ziel verfehlt, denn sie war nicht in der Lage, Menschen im Alter oder bei Invalidität vor Armut zu bewahren. Nicht zuletzt vor dem Hin­tergrund der steigenden Arbeitslosigkeit hat sich statt dessen die Sozialhilfe als eine Grundsicherung auf unterstem Niveau etabliert. Dafür war sie nie vorgesehen, nicht konzipiert und deshalb auch nicht geeignet. Die bis 1998 amtierende Bundesregierung hat sich aber über ein Jahrzehnt lang dafür entschieden, die Existenz von materieller Armut mit all ihren Folgerscheinungen in Deutschland zu verleugnen. Deshalb begrüßen wir das Grundsicherungsgesetz. Es ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.

Mit der bedarfsorientierten Grundsicherung wird ab 2003 zumindest den Menschen geholfen, die kein ausreichendes Arbeitseinkommen erzielen können, weil sie alt oder erwerbsunfähig sind. Sie sind zukünftig nicht mehr oder zumindest nicht allein auf Sozialhilfe angewiesen. Gerade die Frauen sind verdiente Gewinnerinnen dieser Reform. Sie werden abgesichert, wenn die Rente nicht ausreicht. Außerdem wird die Ungleichheit des Sozialversicherungssystems aus­ge­glichen. Wer im Arbeitsleben wenig verdient, wird als Rentner nicht automatisch sozialhilfebedürftig.

Als eine der größten Errungenschaften sehen wir an, dass die Unterhaltspflicht von Angehörigen eingeschränkt wird. Bisher mussten bei der Sozialhilfe erst die Kinder einspringen, wenn die Eltern im Alter ihren Lebensunterhalt oder ihre Pflege nicht mehr aus eigener Tasche zahlen konnten. Das haben die Betroffenen als entwürdigend empfunden. Aus eben diesem Grund haben viele auch erst gar nicht den Versuch unternom­men, Sozialhilfe zu bekommen. Bundesweite Studien schätzen die Dunkelziffer von Menschen, die in Armut leben aber keine Sozialhilfe beziehen, auf bis zu 100 % der heutigen Hilfeempfänger. Sie bekommen jetzt eine faire Chance auf solidarische Unterstützung.


Belastung für die Kommunen

Die Konzepte für eine bedarfsbezogenen Grundsicherung haben ursprünglich vorgesehen, dass der Bund die gesamten Kosten aus Steuermit­teln trägt und die Kommunen weitgehend von Sozialhilfekosten entlastet werden. Das ist leider nicht eingehalten worden. Das beschlossene Gesetz wird die kom­mu­nale Ebe­­ne weiter belasten, denn die Bundesebene hat die Kostenträgerschaft für die Grundsicherung auf die Kreisebene abgeschoben. Der Bund zahlt 20 Millionen Euro an Schles­wig-Holstein, das Land gibt 14,5 Millionen dazu. Die Kreise und kreisfreien Städte bleiben auf dem Rest sitzen.

Das Land hat zwar zugesichert, dass die Kommunen keine zusätzlichen Kosten tragen müssen. Die Landesregierung will aber die Förderung für die nächsten zwei Jahre festschreiben -und nicht wie bei der Sozialhilfe an Hand der tatsächlichen Fallzahlen abrechnen. Die zu Grunde liegenden Fallzahl-Schätzungen des Landes beruhen aber auf veralteten kommunalen Daten beruht. Daher werden die Kommunen sozusagen ge­zwungen, in Vorleistung zu treten. Denn die Mehr­ausgaben bei der Grundsicherung werden die Einsparungen bei der Sozialhilfe deutlich über­steigen – weil Menschen Anspruch auf beides haben, weil die Unterhaltspflicht entfällt und weil eine eigenständige Grundsicherungsverwaltung gesetzlich vorgeschrieben wird. Die Stadt Flensburg z. B. hat in einer eher vorsichtigen Schät­­zung berechnet, dass sie trotz der Zuschüsse einer zusätzlichen finanziellen Be­la­stung von jährlich über 900.000 € zu tragen hat. Eine solche Reform reduziert den ohnehin minimalen kommunalpolitischen Handlungsspielraum noch weiter, und das ist nicht haltbar!

Wir sind in einer etwas verzwickten Lage: Sozialpolitisch haben wir ein großes Interesse daran, dass möglichst viele Anspruchsberechtigte ihre neuen Rechte nutzen, während die Bürgermeister angesichts dieser Aussichten schon an den Fingernägeln kauen.

Wer die Grundsicherung will darf das nicht auf dem Rücken der Kommunen austragen! Dieser Fall zeigt wieder, das es wirklich höchste Zeit für ein „Konnexitätsprinzip“ auf Bundesebene ist. Damit der Bund auch die Musik zahlt, die er vor Ort bestellt.


Grundsicherung auch für Langzeitarbeitslose

Und noch ein Wermutstropfen mehr: Die neue Grundsicherung hilft nur denen, die auf keinen Fall dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, weil sie zu alt oder erwerbsunfähig sind. Damit wird aber das große Armuts­risiko insbesondere der älteren Langzeitarbeitslosen nicht berührt. Natürlich geht es für diese Be­trof­fenen auch in erster Linie darum, sie wieder für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Wir müssen aber realistisch eingestehen, dass viele der Schwächsten es wohl nicht in der Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze schaffen werden. Diese Menschen leiden auch dauerhaft unter sozialen und ökonomischen Veränderungen, die sie nicht selbst verschuldet haben. Zukünftig muss die Gesellschaft auch für ihr Schicksal solidarische Verantwortung übernehmen. Sonst wird die Folge der Grundsicherung auf Dauer eine Armut erster und zweiter Klasse sein.

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