Tale · Flemming Meyer · 07.06.2007 Landesausführungsgesetz zum SGB XII (Eingliederungshilfe)

   
Die Bürgerbeauftragte hat in ihrem aktuellen Tätigkeitsbericht, den wir bereits in der letzten Sitzung diskutierten, einige Beispiele erschreckender Willkür im Bereich der Eingliederungshilfe aufgedeckt. So setzen einige Jugendämter die Stundenzahl für die Schulbegleitung behinderter Kinder – ich zitiere - „ohne hinreichende Begründung und gegen die fachliche Empfehlung der Schule“ als zu niedrig an (Seite 28). Die betroffenen Eltern wehren sich mit Einsprüchen, wenden sich an Rechtsanwälte oder, eben, an die Bürgerbeauftragte. Dieser nervenaufreibende Aufwand wäre gar nicht nötig, würden sich die Jugendämter von vornherein an die fachlichen Vorgaben halten. In der Behindertenhilfe sollten fachliche Belange immer vor finanziellen Belangen rangieren.

Gerade bei behinderten Kindern und Jugendlichen kann eine frühzeitige und umfassende Unterstützung einer Verschlechterung vorbeugen oder zur weiteren Aktivierung beitragen. Dabei kommt es darauf an, dass möglichst alle Fachrichtungen Hand in Hand arbeiten. Statt die Eltern zu einer regelrechten Tournee der unterschiedlichen Hilfeleister zu zwingen, sollte eine koordinierte Unterstützung angeboten werden.

Das, was im stationären Bereich oftmals selbstverständlich ist, nämlich personelle Kontinuität, ist im ambulanten Bereich nicht immer gegeben. Das hat teilweise die absurde Folge, dass Eltern verzweifelt zur stationären Hilfe greifen, weil sie die Bedingungen in der ambulanten Hilfe, die sie eigentlich wollen, aufreibt.

Auch wenn das nicht der Fall ist, führten verteilte Kompetenzen dazu, dass sich die Menschen mit Behinderungen bzw. deren Angehörige zu einem halben Studium gezwungen werden: Rechtsvorschriften sind so kompliziert und Antragswege so verschlungen, dass man nur als Sozialexperte wirklich zu seinem Recht kommt. Das ist keine Gleichbehandlung der Leistungsbezieher, sondern eine eindeutige Bevorzugung derjenigen, die in der Lage sind, ihr Anliegen systemgerecht zu formulieren. Gerade viele Eltern fühlen sich, als ob sie vor einem gigantischen Fahrkartenautomat stünden, der zwar die richtigen und preisgünstigsten Tickets ausdruckt, aber erst nachdem der Kunde reihenweise richtige Befehle eingegeben hat. Wenn Klienten die Leistungen teilweise selbst produzieren müssen, stehen wir vor dem Bankrott eines Systems, das eigentlich die Benachteiligten in die Lage versetzen soll, gleichberechtigt ihre Interessen umsetzen zu können; ein System, das ihre Defizite ausgleichen und nicht verstärken soll.

Im Sozialausschuss sind wir letzte Woche auf die Vorteile des Fallmanagements aufmerksam gemacht worden. Die entsprechenden Folien sind dem Bericht angefügt. Fallmanagement ist die Organisierung der Hilfen um die Bedürfnisse des Betroffenen herum. Das ist die Abkehr von der Dominanz der Organisationslogik, die die Fälle so lange zurecht biegt, bis sie der Logik und den Abläufen der Organisation entsprechen. Vereinfacht gesagt: der Mensch steht im Mittelpunkt. Verbindliche Zusagen schaffen transparente Abläufe und erhöhen die Kontrollmöglichkeiten. Schließlich variiert das Erscheinungsbild einer Behinderung erheblich je nach Alter, sozialem Umfeld und Vorgeschichte des Betroffenen. Dieser Tatsache kann jetzt Rechnung getragen werden. Das begrüße ich ausdrücklich.

Doch das ist der zweite Schritt vor dem ersten. Vor der Erstellung der Hilfeplanung müssen zunächst die Ansprüche als berechtigt anerkannt sein. Ohne Anspruch, gibt es keine Leistung; ohne Anerkennung des Anspruchs kommt man also gar nicht in den Genuss von fachübergreifender Fallkonferenz und Case-Management. Eigentlich ganz logisch. Doch gerade mit der Anerkennung der Anspruchsgrundlage tun sich viele Jugendämter sehr schwer, weil sie wissen, welche Kosten sie damit auslösen. Ist der Anspruch erst anerkannt, müssen die Leistungen gewährt werden.

Einige Jugendämter zögern die Anspruchsanerkennnung darum heraus. Es ist ein Skandal, wenn sich Jugendämter wie Versicherungsgesellschaften gerieren, die aus Kostengründen Erstschreiben zur Schadenregulierungen prinzipiell nicht stattgeben. Hinhaltetaktik und Verschleppung mögen den Haushälter erfreuen, sie gefährden bei Menschen mit Behinderungen unter Umständen die Rehabilitation. Im öffentlichen Raum ist das undenkbar.

Genau das geschieht trotzdem jeden Tag in unserem Land. Wenn man die geschilderten Fälle der Bürgerbeauftragten hochrechnet, die überdies eine steigende Zahl bei der Eingliederungshilfe verzeichnet, ist die Entwicklung besorgniserregend. Gerade Eltern behinderter Kinder fühlen sich über die an sich schon beklemmende Situation hinaus oftmals hilflos und allein gelassen. Eine finanzorientierte Bürokratie verschlimmert das Leid. Das ist besonders perfide.

Der SSW begrüßt die Initiative von Kreisen und Kommunen, die Eingliederungshilfe stärker auf den Einzelfall auszurichten und eine Vereinheitlichung des Verfahrens voranzutreiben. Es darf eben keine Rolle spielen, in welchem Kreis oder welcher Stadt ein Hilfebedürftiger wohnt.

Trotz der Konzeption ist eine einheitliche Handhabung der Anspruchsanerkennung aber noch nicht in Sicht. Und eine Vereinheitlichung des Verfahrens ist nur nützlich, wenn auch landesweit nach einheitlichen Kriterien die Anspruchsberechtigung geprüft wird. Ansonsten bleibt es beim Ausschluss von Leistungen für die Betroffenen und dann nützt es einem auch nichts, wenn man ein gut durchstrukturiertes Verfahren hätte erwarten können, wenn man sich gegen das Amt durchgesetzt hätte. Hier müssen deshalb feste Regelungen geschaffen werden und diese müssen im Sinne der Betroffenen abgefasst sein und nicht kurzfristigen finanziellen Überlegungen der der zuständigen Ämter unterliegen.

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