Rääde · Flemming Meyer · 24.05.1996 Modernisierung des Sozialstaats

Zur Zeit beschäftigt und bewegt uns mehr als alles andere die Frage, was wir tun können, um der Arbeitslosigkeit Herr zu werden. Nach der Wiedervereinigung haben wir mit großer Sorge dabei zusehen müssen, daß unsere Mitbürger in den neuen Bundesländern reihenweise von der Arbeitslosigkeit übermannt wurden. Dieser Prozeß war von Ohnmacht und Hilflosigkeit auf allen Seiten geprägt. Auch in unserem Bundesland hat sich die Situation auf dem Beschäftigungssektor in den letzten Jahren nicht verbessert - im Gegenteil. Dabei ist mit dem üblichen Wirtschaftswachstum der Beschäftigungskrise ja schon überhaupt nicht mehr beizukommen. Wissenschaftler haben berechnet, daß erst ab ca. 3 % Wachstum der Status Quo in der Beschäftigung erhalten bleiben kann. Bei einem etwas geringerem Wachstumsanstieg, wie man ihn zum Beispiel in diesem Jahr in Deutschland erwartet, gibt es dann sogar einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das heißt: obwohl die Wirtschaft ein Wachstum erzielt und ihre Gewinne erhöht, kann der Fall eintreten, daß immer mehr Menschen in unserem Staat arbeitslos werden. Das führt natürlich dazu, daß die Gelder der öffentlichen Haushalte immer knapper werden - aber nicht dazu, daß die Bundesrepublik insgesamt ärmer wird.
Anläßlich der Erörterung der Regierungserklärung hat Dr. Hennig gestern in alter Manier der SPD für ein finanzielles Deseaster die Schuld in die Schuhe geschoben. Nun sind die vielen Kameras nicht mehr im Raum - wir sind unter uns - und lassen Sie uns doch ehrlich sein: niemand - keiner von uns - ist mit einem Patentrezept ausgestattet. Wenn einer von uns, eine Partei, ein Wirtschaftsinstitut oder wer auch immer die Lösung in Händen hielte, wir hätten doch schon längst von ihr Gebrauch gemacht. Wer eine Heilungschance für den kranken Patienten sieht, bringt die Arznei zur Anwendung.

Wir wollen mehr Arbeitsplätze, wollen die Beschäftigungssituation verbessern, die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Ein Kampf ist es schon. Es gibt Modelle, Lösungsansätze, Strategien, Konzepte und andere schöne Worte. Welche Wege sollen wir aber beschreiten und von welchen Voraussetzungen sollen wir dabei ausgehen?
Die Teilzeitarbeit und die Flexibilisierung der Arbeitszeit sind Wege, die wir einschlagen wollen in der Hoffnung, daß sie zu mehr Beschäftigung führen werden. Dürfen wir dabei, wenn wir redlich sind und es sein wollen, davon ausgehen, daß wir je die Vollbeschäftigung erreichen können? Ich wage das zu bezweifeln. Aber ich sage auch: die Erreichung der Vollbeschäftigung muß natürlich das Ziel bleiben.

Die Bundesregierung hat jetzt ein Programm, das einen schönen Namen trägt. „Mehr Wachstum und Beschäftigung“ - das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Aber was wächst - und wer kommt in Arbeit und Brot? Für mich liest sich das mehr als die Verurteilung zu „Wasser und Brot.“
Als Maßnahme zu mehr Beschäftigung soll das Rentenalter stufenweise angehoben werden. Darauf kann ich nur antworten: „Thema verfehlt, Herr Kohl!“ Mein Sinn für Logik sagt mir, daß die Anhebung des Rentenalters keine Arbeitsplätze bringt, im Gegenteil. Vielleicht stimmt aber auch mit meinem Sinn für Logik etwas nicht. Vielleicht ist da irgendwo ein tieferer Sinn. Über den müßte mich dann einmal jemand aufklären.

Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die Worte des Bundesinnenministers, als er in Amt und Würden gelangte. Er wollte, daß die Frauen sich wieder verstärkt den drei K´s zuwenden - Kinder, Küche, Kirche. Vielleicht liegt das an seinem eigenen Namen. Der fängt ja auch mit K an. Aber vielleicht sieht Herr Kanther hierin ja das Patentrezept: Frauen - denkt daran - ihr lebt im Patriachat. Wendet Euch wieder Euren eigentlichen Aufgaben zu - dann haben wir die Vollbeschäftigung, die wir wollen.

Dieser Zug ist Gott sei dank abgefahren. Die Frauen haben in diesem Zug aber immer noch nur Plätze in den Abteilen der 3. Klasse. Die Sitzreihen der ersten Klasse sind noch weit entfernt. Wo erfolgt eine Gleichbehandlung?
Die Frauen bekommen immer noch die Kinder, die wir später brauchen, damit jemand unsere Renten bezahlt. Aber so viele Kinder kommen nicht nach. Die Frauen schaffen die Belastungen nicht. Viele Eltern sind Doppelverdiener. In den meisten Familien sind die Lebenshaltungskosten nur so zu erzielen. Alleinerziehende, denen keiner hilft, werden schnell zu Sozialhilfeempfängern abgestempelt. Arbeit und Kinder vertragen sich eben nicht.

Der sogenannte Sozialstaat, in dem wir noch leben, zeigt nicht nur Kratzer. Die Wunden fangen an, immer tiefer zu werden. Das deutsche Sozialsystem ist in der Krise und dringend reformbedürftig - das steht fest. Wir lesen es ja jeden Tag in der Zeitung. Weder die Renten- noch die Arbeitslosen- oder die Krankenversicherungen können sich selbst finanzieren. Die Gründe sind vielschichtig, aber grob gesagt gilt, daß immer weniger Menschen für immer mehr andere Menschen zur Kasse gebeten werden. Machen wir uns nichts vor: das deutsche Kassensystem der Sozialversicherung - von Bismarck erfunden - kann in Zukunft so nicht mehr aufrechterhalten werden. Allein die sich entwickelnde Alterspyramide wird zum Zusammenbruch der Rentenversicherungskassen führen.

Der SSW tritt daher für ein steuerfinanziertes Sozialsystem ein, wo jede Bürgerin und jeder Bürger bei Alter, Krankheit und Pflegebedürtigkeit eine Grundabsicherung erhält. Das Ideal der skandinavischen Modelle ist hierbei unser Vorbild. Sie werden jetzt sagen: „Auch in Skandinavien sind die Wohlfahrtsmodelle in die Krise geraten.“ Das ist zum Teil richtig. Nur verteilen die skandinavischen steuerfinanzierten Sozialmodelle die Lasten auf viele Schultern - auch und vor allem auf die der Besserverdienenden. Dort wird die wirtschaftliche Stagnation nicht nur den sozial Schwachen auferlegt, wie das hier in Deutschland der Fall ist. Trotz aller Krisenbeschwörung sollten wir nicht vergessen, daß Deutschland immer noch einer reichsten Staaten der Welt ist. Nur ist dieser Reichtum schief verteilt. Um es mit dem Wort meines Vorgängers Karl Otto Meyer zu sagen: Erst wenn Wenige zu viel und viele zuwenig haben, dann haben wir es an Reichtum weit gebracht.

In Ihrem Antrag fordert die CDU zur Besonnenheit auf. Wie können wir besonnen sein, wenn unser soziales Netz immer mehr Löcher enthält, die bald nicht mehr zu stopfen sein werden? Die CDU bezeichnet diesen Zustand als konjunkurelle Schwächephase. Das kann doch nicht ernst gemeint sein.
Der SSW kann sich dem Antrag der Fraktion der SPD inhaltlich voll anschließen.

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