Rede · Jette Waldinger-Thiering · 23.11.2022 Armut ist der größte Feind eines erfolgreichen Bildungsweges

„Die sozialen Ungleichheiten in diesem Land verstärken sich. Und deswegen sind Schlagworte wie „Bildungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ keine altertümlichen Phrasen. Sondern für mich und für den SSW das aktuellste Thema in der Bildungspolitik.“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 21 + 25 + 42 + 6 + 3 - Rahmenkonzept zur Etablierung von Campusklassen erstellen und Konzept zur Verbesserung der Leistungen von Grundschulschülerinnen und -schülern sowie Berichte zum Absturz von Grundschulleistungen aufarbeiten und über die Unterrichtssituation 2021/2022 (Drs. 20/256, 20/345, 20/398, 20/325)

Der IQB-Bildungstrend 2021 hat uns unmissverständlich klar gemacht, dass zu viele Schülerinnen und Schüler an den Grundschulen nicht mehr die Mindeststandards für ihre Klassenstufe erreichen, weil die Basiskompetenzen in den Bereichen Mathematik und Rechtschreibung fehlen. Wir hatten schon in den letzten Untersuchungen des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen einen negativen Trend, aber die aktuellste Untersuchung ist wirklich einschneidend. Die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sind im Vergleich zur letzten Erhebung 2016 zum Teil deutlich gesunken, in allen untersuchten Bereichen. 
Und doch ist, dass wir diese Debatte im Landtag so führen ist, wenn wir mal ehrlich sind, dem Oppositionsantrag zum Thema zu verdanken. Ministerin Prien hat im Ausschuss zum Thema berichtet und ich habe da so ein Gespür, dass das den regierungstragenden Fraktionen schon gereicht hätte. 

Und daher muss ich leider wirklich sagen, dass ich einfach nur enttäuscht vom Antrag der Regierungsfraktionen bin, den Sie nun nachgeschoben haben. Sie kommen hier selbst bei den Maßnahmen, die die Landesregierung ergreifen soll, nicht über eine Zustandsbeschreibung hinaus. Da, wo Sie mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse der IQB-Untersuchung beginnen, starten Sie mit dem Satz: „Auf den guten Leistungen muss nun aufgebaut werden“. Also, Entschuldigung, aber das ist entweder Augenwischerei oder wirklich nur schöngeredet. 
Sie formulieren weiter, alle Kinder hätten das Recht auf einen gelingenden Bildungsweg und verweisen auf einen erfolgreichen Übergang von der Primarstufe an die weiterführenden Schulen. Aber Sie wissen doch spätestens aus der letzten Sitzung des Bildungsausschusses, wenn nicht schon aus meiner Kleinen Anfrage zum Thema, dass der erste wichtige Übergang viel früher liegt und die Landesregierung bereits hier keinen Überblick hat. Ich spreche vom Übergang von der Kita zur Grundschule. 

Die Kooperation zwischen Schulen und Kindertageseinrichtungen ist im Schulgesetz
geregelt, § 3 und § 41 SchulG legen Soll-Vorschriften zur Kooperation fest. Und doch fehlen der Landesregierung – und damit uns allen – hier verlässliche Auskünfte. 
Darüber, welche Kindertagesstätten und Grundschulen bisher Kooperationsvereinbarungen abgeschlossen haben, lägen keine Zahlen vor. Die Regierung weiß also nicht, inwieweit das Schulgesetz umgesetzt wird. Und das, obwohl doch gerade in der Zusammenarbeit von Kita und Grundschule das Fundament für Bildungsgerechtigkeit liegt und sich, eigentlich wenn wir über diese Altersgruppe sprechen, alle einig sind, wie entscheidend diese Jahre sind. Ich begreife ehrlich gesagt nicht, warum Sie nicht erkennen wollen, wie gravierend die fehlenden Zahlen an dieser Stelle sind.  
Immerhin eine gewisse Genugtuung bereitet es mir, dass auch CDU-geführte Regierungen mittlerweile immer wieder, so auch in diesem Antrag, auf die multiprofessionellen Teams in den Schulen setzen, für die Sie ja die Küstenkoalition bei ihrer Einführung so sehr belächelt haben. Das Konzept hat sich durchgesetzt und bewährt. 

Der Regierungsantrag bleibt schwammig in seiner Auswertung der IQB-Untersuchung und der Hauptfaktor, der zumindest uns als SSW am meisten beschäftigen sollte, bleibt unbenannt. 
Die sozioökonomischen Faktoren, die die Leistungsrückgänge ohne Zweifel haben. Die größten Leistungsrückgänge ließen sich in Zeiten, die von Unterricht auf Distanz geprägt waren, bei denjenigen Schülerinnen und Schülern feststellen, die zu Hause auf wenig Unterstützung zurückgreifen konnten. Wie Kinder durch die Schule kommen, hängt immer noch viel zu stark vom Elternhaus ab. Der IQB-Bericht kommt ganz klar zu dem Ergebnis, dass der Zusammenhang zwischen Fähigkeiten im Unterricht und dem sozioökonomischen Status der Familie in allen Bereichen zugenommen hat.
 
Die sozialen Ungleichheiten in diesem Land verstärken sich. Und deswegen sind Schlagworte wie „Bildungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ keine altertümlichen Phrasen. Sondern für mich und für den SSW das aktuellste Thema in der Bildungspolitik. Es darf nicht sein, dass uns Schülerinnen und Schüler systematisch abhanden kommen, wo es zu Hause an Ressourcen mangelt. Damit sind gleiche Bildungschancen ein soziales Problem und Armut der größte Verhinderer eines erfolgreichen Bildungsweges. 
Da, wo die soziale Schere auseinander geht, muss unbedingt gehandelt werden. Und zwar so früh wie möglich. Frau Prien, sie haben es selbst gesagt, Defizite häufen sich an. Deswegen ist es so wichtig, bereits früh Mängel zu erkennen und Hilfestellungen zu geben. 
Frühkindliches Alter und Primarstufe sind hier wirklich von besonderer Bedeutung.

Woran auch niemand mehr versuchen sollte zu drehen, sind die Aufholprogramme für die Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein. Es sollte spätestens ab jetzt allgemein anerkannt sein, dass ein Lernsommer und ein Aufholprojekt in den Ferien nicht ausreichen, sondern dass wir noch lange Zeit verlässliche Strukturen brauchen, bei denen die Kinder und Jugendlichen Unterstützung erhalten. Und vor allem müssen mehr Kinder an den Aufholprogrammen teilnehmen. Ich denke, da brauchen die Schulen Hilfe aus dem Ministerium, um mit guten Strategien ohne Zwang mehr Schülerinnen und Schüler zu motivieren, an Aufholprogrammen teilzunehmen. 

Zum Gesamtbild für Schleswig-Holstein gehört auch mit Blick auf die Unterrichtssituation noch einiges, was an Faktoren angeführt werden muss. 
Etwa, dass es trotz Präsenzbetrieb deutlich mehr Unterrichtsausfall gab. Dass 1/10 der Stunden nicht regulär stattfanden. Also dass 2,2% komplett ausgefallen und 8,5% nicht planmäßig stattgefunden haben. Die stärksten Einbußen haben die Gemeinschaftsschulen hinnehmen müssen. 
Das sind immer noch, so stand es im Bericht, Folgen der Pandemie, Krankenstände und Quarantäneregelungen. 
Aber besonders durch die IQB-Ergebnisse sollte uns klar sein, dass wir hier einfach ein Problem haben. Und dass es nicht einfach so wegzuwischen ist, wenn in den Grundschulen zusammen 9,2% des Unterrichts nicht plangemäß stattgefunden hat. Denn es ist eben so, dass der Regelunterricht auch in der Primarstufe nicht mal eben so von fachfremden Lehrkräften übernommen werden kann. Das hat Auswirkungen auf die Qualität und wir sehen momentan mehr als deutlich, welche ausschlaggebenden Folgen das mit sich bringt. Wir brauchen an unseren Grundschulen mehr Fachlichkeit! 

Und deswegen ärgert es mich auch immer so, wenn wir im Ministerium nachfragen zu Instrumenten, die die Politik eigentlich zur Hand hat, und nur unzureichende Antworten bekommen. 
Zahlen zu Kooperationsvereinbarungen zwischen Kita und Schule: liegen nicht vor. 
Schuleingangsuntersuchungen: finden nicht flächendeckend statt, lägen aber in der Verantwortung der Kreise.  
Ich finde tatsächlich, wenn bestehende Instrumente nicht funktionieren und wir gleichzeitig ein so großes Defizit ausmachen können, bei den jüngsten unserer Schülerinnen und Schüler, muss das Ministerium alles daran setzen, dass sich das ändert.

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