Rede · Flemming Meyer (2009–2020) · 24.02.2010 Auswirkungen des BverfG-Urteil über Regelleistungen nach dem SGB II

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar ist klar und eindeutig. Für die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens reicht es nicht, sich allein am physischen Existenzminimum zu orientieren. Auch die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe des Hilfebedürftigen - das soziale Existenzminimum - muss selbstverständlich Berücksichtigung finden. Die aktuellen Regelleistungen gewähren dies leider bei weitem nicht. Das Verfahren zur Ermittlung des Regelbedarfs muss neu geordnet werden. Doch schaut man sich zum Beispiel die Bedarfsermittlung für Kinder an, frage ich mich, ob dieses Urteil überhaupt jemanden verwundert?

Dem Bundesverfassungsgericht nach wurden diese Leistungen nicht empirisch und methodisch fundiert ermittelt, sondern „offensichtlich freihändig gesetzt“. Die Karlsruher Richter haben die Leistungsbeträge nicht als deutlich unzureichend erklärt. Doch die offensichtlich stümperhafte Berechnung der Regelleistungen lässt für uns keinen Zweifel daran, dass diese nach oben korrigiert werden müssen. Das neu zu ordnende Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung wird mit Sicherheit zu genau diesem Ergebnis führen.

Es ist allgemein bekannt, dass die Neuregelung für die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze erst ab dem 1. Januar 2011 greifen muss. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts räumt daher den Hilfebedürftigen ab sofort die Möglichkeit ein, ergänzende Leistungen zu beanspruchen. Wir halten diese Härtefallregelung als Übergangslösung für sinnvoll und ermutigen dazu, bei begründetem Anspruch, von dieser Gebrauch zu machen. Sie mag vorübergehend zumindest eine etwas gerechtere Ermittlung des zum Leben notwendigen Bedarfs ermöglichen. Wichtig ist, dass diese Regelung im Rahmen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht unverhältnismäßig strikt gehandhabt wird. Doch es liegt natürlich auf der Hand, dass es hierdurch nur in Einzelfällen zu einem menschenwürdigeren Dasein der Bedürftigen kommt.

Wir stellen fest, dass der Weg der Notlösungen und Sonder- bzw. Sachleistungen der falsche ist. Nachbesserungen wie die aktuelle Härtefallregelung ändern nichts an den offensichtlichen Mängeln dieses Systems. Besonders die unzulängliche Ermittlung des Bedarfs von Kindern macht deutlich, dass es weder Chancengleichheit noch Teilhabe am sozialen Leben sicherstellt. Ausgaben für Vereinsmitgliedschaften und Kinokarten stellen für viele Familien eine große und mitunter unüberwindbare Hürde dar. Die Folge sind häufig Ausgrenzung und Stigmatisierung hilfebedürftiger Kinder. Wie auch das Bundesverfassungsgericht feststellt, droht durch die Missachtung der kindlichen Entwicklungsphasen und der kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung der Ausschluss von Lebenschancen. Die Verhinderung der sozialen Teilhabe erzeugt die Verlierer von morgen, und der Ausstieg aus dem System wird unter den heutigen Bedingungen immer weiter erschwert. In der Konsequenz bedeutet dies nichts anderes, als dass die gesellschaftlichen Folgekosten erhöht werden und bei weitem jene überschreiten, die heute für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums der Bedürftigen nötig sind.

Neben der absoluten Notwendigkeit, den Begriff des Förderns im System Hartz IV stärker in den Mittelpunkt zu rücken und diesen auch tatsächlich mit Leben zu erfüllen, muss es stärker auf den Bedürftigen ausgerichtet und somit zweckorientierter gestaltet werden. Dies gilt im Übrigen auch und gerade für die diskutierten Sachleistungen. Pauschale Gutscheinregelungen führen lediglich zur weiteren Ausgrenzung der Betroffenen und kaum zur Verbesserung ihrer Lebenssituation. In der Sicherstellung einer frei zugänglichen Bildungsinfrastruktur - in Kostenlosen KiTas und Ganztagsschulen - liegt die Lösung dieses strukturellen Problems. Die Konsequenz aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil kann nur eine Erhöhung der Regelleistungen sein. Nicht nur, aber insbesondere für Kinder. Denn dies ist der einzige Weg, um wenigstens ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe zu gewährleisten und zur Stabilität der Gesellschaft beizutragen. Nur so werden wir unserer sozialen und finanziellen Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen gerecht.

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