Rede · Jette Waldinger-Thiering · 13.02.2019 Eine fatale Markierung einer einzelnen Schülergruppe

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 16 - Zeugnisse für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Drs. 19/1207)

„Viele Eltern sind regelrecht auf der Zinne. Dabei wollen sie nur, dass ihre Kinder die gleichen Startbedingungen wie alle andere Absolventen haben.“

(Nr. 046-2019) Durch Gespräche mit Eltern wurde mir einmal mehr klar, was die Bildungsministerin mit der neuen Landesverordnung über die abweichende Gestaltung der Zeugnisse für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf angerichtet  hat. Diese Verordnung wird als Diskriminierung erlebt. Die Eltern sind entsetzt darüber, wie mit ihren Kindern umgegangen wird. Für sie benachteiligt ein Abschlusszeugnis ohne Noten eine einzelne Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Die Eltern gehen davon aus, dass bei Bewerbungsverfahren Bewerbungen von vornherein keine Chance haben, weil sie aus der Reihe tanzen. Personalchefs und Ausbilder würden die Berichtszeugnisse  erst gar nicht lesen, sondern gleich zur Seite legen und aussortieren. Diese Sorgen nehme ich sehr ernst, denn diese Eltern neigen wirklich nicht zum Alarmismus; schließlich kennen sie sich mit Diskriminierungserfahrungen gut aus. 

Gerade darum müssen wir zur alten Regelung zurück. Wir ersparen damit den Schülerinnen und Schülern eine Erfahrung des unnötigen Sonderwegs. Noten sind nämlich nicht des Teufels. Das hat der SSW auch nie behauptet. Sie dampfen die Leistungen mehrerer Monate auf eine Ziffer ein. Das ist vor allem für den Schulstart ein gewöhnungsbedürftiges Verfahren. Darum sind wir gegen Noten in der Grundschule. Noten sollen anspornen und orientieren; ohne Gespräch mit den Lehrkräften bleiben sie aber auch nach der Grundschule dürre Nummern ohne Aussagekraft. 

Noten im Abschlusszeugnis haben aber eine ganz andere Qualität: sie sind gesellschaftlich anerkannt und im Abschlusszeugnis alternativlos. Für den Numerus Clausus sind sie einfach das beste Verfahren, obwohl auch da erhebliche Vergleichsprobleme bekannt sind. Den Übergang von Schule in den Beruf oder auf eine berufsbildende Schule angemessen zu managen, ist eine zentrale Aufgabe der Schule. Diese kann sie jetzt mit der Verordnung nur mit einem großen Handicap erledigen: sie muss Berichtszeugnisse statt Notenzeugnisse für die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf anfertigen. Das sieht die neue Landesverordnung in einem eigenen Paragraphen seit diesem Sommer so vor. Das mag guter Absicht entspringen, ist aber tatsächlich eine fatale Markierung einer einzelnen Schülergruppe.

Damit berühren wir unser gesellschaftliches Selbstverständnis im Umgang mit Menschen, die einen besonderen Förderbedarf haben. Getrennte oder gemeinsame Beschulung? Beschützte Arbeitsverhältnisse oder Arbeit im Betrieb? Integrativer Kindergarten oder Behinderteneinrichtung? Es hat lange gedauert, bis wir diese Fragen überhaupt gestellt haben; so selbstverständlich war jahrzehntelang die Segregation. Sonderwege wurden mit dem Sonderbedarf der Menschen mit Behinderungen erklärt. Der Goldstandard war dabei der angebliche Normalo, der alles sehen, hören und verstehen kann. Dass das ein Konstrukt ist, hat sich erst sehr langsam durchgesetzt. Jedes Kind hat Stärken, die man fördern und unterstützen kann. Inzwischen ist es Konsens, dass zu einer bunten Gesellschaft eben auch bunte Betriebe und Wohnviertel  gehören. Nicht die Menschen sind behindert, sondern sie werden behindert.

Die Landesverordnung macht diesen Schritt nicht mit, sondern betoniert den Sonderweg. Viele Eltern von Kindern mit Förderbedarf fühlen sich dadurch regelrecht verhöhnt. Die Landesverordnung sieht nämlich die Einbeziehung der Eltern ausdrücklich im § 5 vor. Aber eben nicht, wenn es um ein Notenzeugnis geht. Da ist viel Porzellan zerschlagen worden. Viele Eltern sind regelrecht auf der Zinne. Dabei wollen sie nur, dass ihre Kinder die gleichen Startbedingungen wie alle andere Absolventen haben. Also ein Notenabschlusszeugnis, mit dem sie sich erfolgreich bewerben können. Dass das möglich ist, zeigt die Regelung in § 3, dass bei Umzug in ein anderes Bundesland auf Antrag ein Notenzeugnis auszustellen ist. Es geht also! Sollen jetzt die Eltern alle umziehen, um ein Notenzeugnis zu bekommen? Absurdistan! Darum unser Antrag, die Landesverordnung zu ändern.

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