Rede · 11.07.2001 Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst

Fragt man die Frau oder den Mann auf der Straße, was ihnen zum Thema Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) einfällt, dann nennen sie in aller Regel die klassischen gesundheitspolizeilichen Aufgaben. Im Gesundheitsamt gibt es Impfungen und Gesundheitszeugnisse; der Amtsarzt ist derjenige, der in die geschlossene Psychiatrie einweisen darf. Eine wirklich bedeutende Rolle in der Gesundheitspolitik wird diesen Einrichtungen meist nicht zugeschrieben. Zu zersplittert und unübersichtlich erscheinen ihre verschiedenen Kompetenzen. Die sogenannte dritte Säule im Gesundheitswesen neben den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern, der öffentliche Gesundheitsdienst, steht gut und gründlich im Schatten der beiden anderen Kernbereiche.

Die Profillosigkeit der Öffentlichen Gesundheitsdienste liegt nicht zuletzt daran, dass es bis heute kein wirkliches Leitbild für die kom­munalen Gesundheitsleistungen gibt. Als die Gesundheitsämter zu Beginn des Jahrhunderts entwickelt wurden, arbeitete der „Kommunalarzt“ dafür, durch „sozialhygienische“ Maßnahmen die Lebensverhältnisse für breite Bevölkerungsschichten zu verbessern und so Krankheiten wie die Tuberkulose zu vermeiden. Dieses moderne gesundheitspolitische Leitbild ging aber in der Zwischenzeit verloren. Die auf Heilung von Krankheiten ausgerichtete Medizin der niedergelassenen Ärzte dominierte und verdrängte den Gesundheits-erhaltenden, auf die Veränderung von Lebenslagen gerichteten Ansatz.

Dieser vorbeugende Ansatz erlangte aber mittlerweile neue Prominenz als sogenannter Public Health-Gedanke. Aus dem Ausland lernen wir, dass noch viel mehr präventiv gearbeitet werden kann und muss - allein schon weil dies der einzige Weg ist, längerfristig Kosten zu sparen, ohne das Leistungsniveau der Krankenversorgung zu verschlechtern. Zudem stehen wir vor Problemen, die sich mit den Mitteln der kurativen Medizin nicht lösen lassen. Herausforderungen wie die Zunahme chronischer Erkrankungen, die demographische Entwicklung mit der zunehmenden Pflegebedürftigkeit, Drogenprobleme, AIDS, BSE oder schädliche Umwelteinflüsse müssen vorbeugend angegangen werden. Auf dem Feld der Gesundheitsförderung, die auf besondere Gruppen oder Lebensräume zugeschnitten ist, kann der Öffentliche Gesundheitsdienst neue Stärke erlangen. Die Politik ist seit langem aufgerufen, sein altes bevölkerungs­medizinisches Leitbild wiederzuentdecken und seine originären Aufgaben weiterzuentwickeln.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der SSW den Gesetzentwurf der Landesregierung. Durch die neue Bestim­mungen über die Ziele und Aufgaben des ÖGD erfüllt er - zumindest rhetorisch - die seit vielen Jahren erhobene Forderung, dem Öffentliche Gesundheitsdienst eine Renaissance zu verschaffen als primärpräventiv orientiertes, koordinierendes Instrument der Gesundheitspolitik.

Wir haben allerdings Zweifel, ob dieses mit der vorgelegten Regelung in der Praxis erreicht werden kann. Kopfschmerzen bereitet vor allem der vorgeschlagene Weg der Kommunalisierung. Gegen eine weitere Dezentralisierung dieser Aufgaben gibt es grundsätzlich keinen Einwand. Allerdings verkennen wir auch nicht, zu welcher Zeit diese Änderung erfolgt. Die weiterführende Kommunalisierung der Kompetenzen birgt die Gefahr, dass die Landräte und Bürgermeister ein neues Rationalisierungspotential finden und kommunale Gesundheitspolitik auf der Strecke bleiben. Das gilt umso mehr, als die Gesundheitsförderung sich wesentlich schlechter „greifen lässt“ als die kurative Medizin.

Das Land darf sich nicht ganz aus der Verantwortung zurückziehen, ohne die eigenen Zielsetzungen über Standards und Maßnahmen der Qualitätssicherung abzusichern. Dieses könnte negative Konsequen­zen für eine ganze Reihe der im Gesetz beschriebenen Ziele und Aufgaben haben. Wir sehen die Gefahr, dass die angestrebten Regelungen zu einer Verschlechterung der Leistungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes führen und die vorgegebenen Ziele zu gesundheitspolitischer Lyrik verkommen.

Der Gesetzentwurf für das Gesundheitsdienstgesetz ist im Grundsatz gelungen. Er wirft aber die Frage auf, ob die Regelungen im Detail dazu geeignet sind, eine Umsetzung der alten und neuen Ziele für den ÖGD zu erreichen. Das gilt unter anderem auch für die Beschränkung des Gesundheitsschutzes auf den Infektionsschutz. Diese Befürchtungen wird die Regierung hoffentlich noch entkräften.

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