Rede · Jette Waldinger-Thiering · 27.08.2020 Inklusionsbericht geht offen mit den Schwachstellen um

„Wenn jeder Mensch überall dabei sein kann, am Arbeitsplatz, beim Wohnen oder in der Freizeit: Das ist Inklusion. Davon sind die Schulen in Schleswig-Holstein allerdings noch weit entfernt.“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 20 - Inklusion im schulischen Bildungsbereich (Drs. 19/1913 und 2105)

Für die Aktion Menschen ist es klar: Wenn jeder Mensch überall dabei sein kann, am Arbeitsplatz, beim Wohnen oder in der Freizeit: Das ist Inklusion. Davon sind die Schulen in Schleswig-Holstein allerdings noch weit entfernt. Zwar hat sich in der letzten dreißig Jahren der Anteil der inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler enorm verbessert, aber immer noch kann die Regelschule nicht allen Bedürfnissen und Förderansprüchen gerecht werden. Die Schüler*innen, vor allem diejenigen mit einer Mehrfachbehinderung, sind auf die Beschulung in einem Förderzentrum angewiesen. Dazu möchte ich einschieben, dass die freie Elternwahl weiterhin gewährleistet werden muss.
Wie sieht es nach der Schule aus? Im Studium ein ähnliches Bild wie bei den Schulen: Studierende mit Behinderung scheitern schon an studienbegleitenden Hindernissen: da ist die Mensa nicht barrierefrei oder die Bibliothek; es fehlen Blindenstreifen oder die Akustik im Hörsaal schließt schwerhörige Studierende aus. Allerdings gibt es für die Universitäten keine Alternativen, so dass die Quote der Studierenden mit Behinderungen seit Jahren beklagenswert niedrig ist. 
Das führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen auch auf der anderen Seite des Pultes selten in den Schulen zu finden sind. Eine Schule mit Barrieren schließt eben nicht nur Schüler*innen mit Behinderung aus, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer mit Behinderung. Erklärt sich so auch die Berufung eines nicht-behinderten Direktors der Gehörlosenschule? 

Ich möchte an dieser Stelle allerdings ausdrücklich die Offenheit des Berichtes loben, der auch Schwachstellen nicht verschweigt. Und davon gibt es einige, von denen ich heute nur wenige stichwortartig nennen möchte: so ist eine 1:2 Begleitung in den seltensten Fällen bereits umgesetzt. Schulbegleitungen und Assistenten werden aus Kostengründen oftmals in den Ferienzeiten nicht bezahlt. Dieses System ist falsch, weil es gute und engagierte Kräfte aus diesem Bereich regelrecht verjagt. Die Anerkennung der Gebärdensprache als Minderheitensprache steht noch ganz am Anfang. Die Berufsschulen haben noch erhebliche Integrationsanstrengungen vor sich; in diesem Bereich müssen wir klotzen und nicht kleckern. Die individuell zu stellenden Anträge für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung sind nicht nur enorme Zeitfresser für die Eltern, sondern befördern deren Selbstausbeutung. Die Inklusion ist von Kommune zu Kommune sehr heterogen, so dass der Zufall des Lebensortes über die Breite der Förderung entscheidet. Autismus ist eine Behinderungsform, die offenbar das bisherige System sprengt, und die Eltern zu einem wahren Behördenmarathon zwingt. 
Ich könnte die Liste fortsetzen.
Das alles stellt aber die enormen Fortschritte keineswegs infrage. Ein Kind mit Behinderungen, das 2020 eingeschult wird, hat gute Chancen auf angemessene und ausreichende individuelle Förderung und einen Schulabschluss. Um diese Fortschritte zu bewahren, befürworte ich einen jährlichen Fachtag zur Inklusion an Schulen.  Ich bedaure, dass die Fortführung des Fachtages im Ausschuss keine parlamentarische Mehrheit gefunden hat. 
Ich beantrage, die Antworten der Landesregierung zur Umsetzung sonderpädagogischer Standards zur Kenntnis zu nehmen.

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