Rede · Flemming Meyer (2009–2020) · 23.03.2006 Kinderarmut und Landesbericht zur Armutsbekämpfung

Kinderschutzbund,  Arbeiterwohlfahrt, Landesjugendring, Sozialverband Deutschland und Unicef haben im Januar acht Thesen vorgelegt, um die Kinderarmut in Schleswig-Holstein zu bekämpfen. Die Initiative heißt: „Gemeinsam gegen Kinderarmut“ und wird bis in den Sommer hinein im ganzen Land zur Diskussion gestellt. Der SSW begrüßt ausdrücklich, dass in dem vorliegenden Antrag diese Initiative aufgegriffen wird. Dabei wird nicht nur den Kindern eine minimale Existenzsicherung in Aussicht gestellt, sondern auch die Eltern sollen niedrigschwellige, unbürokratische Hilfe erhalten. Genau das entspricht dem Anspruch oben genannter Verbände, die in ihrer Arbeit täglich mit Kindern in Armut zu tun haben. Sie sahen sich zu einem gemeinsamen Aufruf und einer Reihe von Veranstaltungen gezwungen, damit endlich etwas geschieht. Wir dürfen uns mit der wachsenden Zahl armer Kinder nicht abfinden.

Ich will hier nur wenige konkrete Beispiele nennen: Arme Kinder werden seltener zum Arzt geschickt: Übergewicht und Zahnprobleme werden nicht behandelt. Arme Kinder gehören überproportional zu den Sitzenbleibern, weil schulische Probleme in der Familie oftmals ignoriert werden. Arme Kinder bleiben von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen, da sie sich oft schämen, in der Öffentlichkeit  aufzutreten. Sie haben kaum Zugang zu Musikunterricht, Vereinssport oder ähnlichen Veranstaltungen. Armut geht uns alle an.

Wir müssen etwas dagegen unternehmen, denn Armut unterhöhlt das demokratische Gefüge. Wenn sich immer mehr Menschen ausgegrenzt fühlen, dann gerät das demokratische Fundament ins Rutschen. Kinder, die keine Winterstiefel haben, wegen fehlender Unterstützung durch die Eltern die Schule schwänzen oder wegen vermeintlich unmoderner Kleidung dem sozialen Spott ausgesetzt sind, erwarten konkrete Hilfe. Hilfe, die sich nicht in der Anrufung neuer sozialer Netze erschöpft, sondern konkrete Unterstützung für sie und ihre Eltern. Die Kolleginnen und Kollegen von den Bündnisgrünen haben das in einen klaren Antrag umgesetzt. Die Vorschläge können unmittelbar auf Landesebene umgesetzt werden, kosten aber kräftig Geld. Allein ein beitragsfreies letztes Kindergartenjahr würde in einer einzigen schleswig-holsteinischen Kommune, nämlich Rendsburg, 300.000 Euro im Jahr kosten.

Das ist ja nur ein Punkt. Ein anderer ist die Unterstützung durch den regelmäßigen Besuch von Familienhebammen: Ein niedersächsisches Modellprojekt schätzt den Einsatz von Familienhebammen nur für 200 Kinder in Hannover auf 60.000 Euro im Jahr. In Skandinavien reicht eine solche Betreuung über die ersten Monate und Jahre im Kinderleben hinaus und hat dort zu einer hohen Akzeptanz geführt. Um dieses aber finanzieren zu können, müsste das Sozialsystem völlig umgekrempelt werden. Punkt für Punkt kommen wir damit zu einer erheblichen Summe, deren Volumen allenfalls geschätzt werden kann.

Daher fordert der SSW schnellstens eine bundespolitische Wende, denn das Land kann die Lasten einer effektiven Armutsbekämpfung nicht allein schultern. Der SSW lässt aber keinesfalls den Einwand, dass eine vernünftige Familienförderung derzeit nicht zu finanzieren ist, gelten. Das Geld ist da, fließt aber in die komplett falsche Richtung. Wir leisten uns unter anderem ein Trauschein-Subventionsprogramm, nämlich das Ehegattenspliting. Der SSW fordert seit Jahren eine vernünftige Familienförderung, die unter anderem mit den Splitting-Milliarden finanziert werden könnte. Die Bundespolitik muss generell umsteuern: weg mit der Förderung der vermögenden Steuerzahler, die sich ihre Ausgaben via Steuerbescheid wieder zurückholen, hin zu einer institutionellen und finanziellen Unterstützung für Kinder und arme Familien, um diese vor der Ausgrenzung zu bewahren.

Hartz IV hat das Problem zugespitzt. Denken wir nur an die ersten Monate nach Inkrafttreten, als der Ausbildungsplatzvermittler der Arbeitsagentur Kinder von ALG II-Beziehern nach Hause geschickt hat. Nicht, weil er keine Ausbildungsplätze vermitteln könnte, sondern weil die Eltern des jungen Menschen, der vor ihm saß, das falsche Einkommen bezogen.
Neben dieser Ausgrenzung, die inzwischen durch eine bessere Koordinierung weitgehend verschwunden ist, kommt die materielle Ausgrenzung mit zu niedrigen Regelsätzen: Regelsätze, die es Ein-Eltern-Familien schwer machen, eine Schultüte zu finanzieren.

Wir brauchen einen konkreten Handlungsplan zur Bekämpfung der Kinderarmut in Schleswig-Holstein. Das Land darf angesichts steigender Armutszahlen den Kopf nicht in den Sand stecken. Die Landesregierung muss darlegen, welche konkreten Maßnahmen sie im Rahmen der Landeskompetenzen bereits mit dem Haushalt 2007/2008 in Gang setzen kann. Leider lag zu unserem großen Bedauern eine Berichtsfassung noch letzte Woche nicht vor. Das ist kein gutes Zeichen. Das erweckte den Eindruck, als ob sich die Landesregierung mit der Formulierung konkreter Maßnahmen besonders schwer tut.

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