Rede · Flemming Meyer (2009–2020) · 18.06.2009 Pflegegesetzbuch in Schleswig-Holstein – Zweites Buch – Gesetz zur Stärkung von Selbstbestimmung und Schutz von Menschen mit Pflegebedürftigkeit oder Behinderung

Die Landesregierung hat mit dem neuen Teilhabe- und Pflegegesetz einen großen Schritt nach vorne gewagt. Pflege wird in den nächsten Jahren sowohl quantitativ als auch qualitativ stärker ins Bewusstsein rücken, weil in unserer alternden Gesellschaft die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf zunehmen wird, während gleichzeitig in den Familien weniger Unterstützer zur Verfügung stehen. Der Anteil professioneller Pflege wird also zunehmen. Auf der anderen Seite wachsen die Ansprüche nach selbst bestimmten und individuellen Angeboten.
Der Gesetzgeber stellt sich dieser Herausforderung und legt neue, moderne Rahmenbedingungen fest. Das klassische Heimrecht wird in Schleswig-Holstein mutig reformiert. Das unterstützt der SSW ausdrücklich.
Bei der Anhörung lobten die Experten durchweg die Qualität des Gesetzentwurfes und forderten eine baldige Verabschiedung.
Unbestritten ist, dass bei einer Pioniertat immer Unwägbarkeiten bleiben; viele Vorschläge zu besseren, treffenderen und eindeutigeren Formulierungen liegen vor. Die Änderungsanträge der FDP und der GRÜNEN sind in vielen Bereichen richtig. Sie in allen Einzelheiten zu diskutieren, hieße allerdings, den Fortgang des Gesetzgebungsprozesses zu behindern.
Ich möchte daher gleich von vornherein betonen, dass der SSW das neue Gesetz unbedingt auf den Weg bringen möchte und dementsprechend der Beschlussempfehlung folgen wird. Wir sollten keinen Schritt zurückgehen und keine weitere kostbare Zeit verschenken.

In zwei Jahren sollten wir allerdings sowohl die gesetzlichen Regelungen als auch die neuen Strukturen einer gründlichen Evaluation unterziehen. Erst dann können wir beurteilen, ob die guten Absichten in der Praxis auch tatsächlich genutzt werden können und wo sie sich als zu ungenau oder zu kompliziert erwiesen haben. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass eine Klagewelle aufgrund schwammiger Rechtsbegriffe nicht zu erwarten ist.

Der über die Jahre gewachsene Pflegesektor wird durch das Gesetz transparenter gemacht. Das behagt einigen Trägern überhaupt nicht; für den SSW ist das allerdings ein sicheres Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Viele Entscheidungen beruhten im Pflegebereich immer noch auf willkürlichen oder personenabhängigen Entscheidungen. Das neue Gesetz will das abschaffen. Einheitliche Zertifikate sind zwar kein Allheilmittel, doch können sie ein sinnvolles Instrument zur Qualitätssicherung und zum Vergleich der Einrichtungen sein. Dabei kommt es selbstverständlich nicht in Frage, die Unterschiedlichkeit der Angebote durch die Hintertür einzuebnen. Außerdem sind Zertifikate keine Garantie, dass sie auch wirklich die Bereiche, die den Kunden interessieren, betreffen. Ein Zertifikat gibt lediglich eine Orientierung; die Entscheidung für oder gegen die Einrichtung sollte immer erst nach einer gründlichen Bewertung durch unabhängige Beratungsstellen und einem Beratungs- und Informationsgespräch vor Ort erfolgen.

Bereits bestehende Möglichkeiten, wie die DIN-Norm für das betreute Wohnen, das analog zur Hotelbranche ein Sterne-System ermöglicht, sollten unbedingt genutzt werden. Die Leistungsangebote, die sich unter dem Oberbegriff „Betreutes Wohnen“ finden lassen, unterscheiden sich zum Teil erheblich. Trotzdem stehen einige Betreiber diesen neuen und für sie ungewohnten Instrumenten immer noch etwas skeptisch gegenüber, obwohl sie eindeutig die Vergleichbarkeit für die Kunden verbessert. Ich bin aber optimistisch, dass im Zuge des neuen Gesetzes auch diese Verfahren verstärkt auf dem hiesigen Pflegemarkt Einzug halten werden.

Das neue Gesetz stellt die Menschen mit Pflegebedarf in den Mittelpunkt und unterscheidet konsequenterweise nicht mehr länger zwischen dem altersbedingten Demenzkranken und dem jungen Schwerbehinderten mit Pflegebedarf. Übrigens gerade bei letzteren müssen wir uns um genaue Begrifflichkeiten bemühen, um nicht alle Menschen mit Behinderung zu Pflegebedürftigen abzustempeln. Viele Menschen leben mit ihrer Behinderung ein selbständiges Leben in den eigenen vier Wänden und sind nicht auf Unterstützung angewiesen.
Das Gesetz sieht vor, dass Strukturen in Zukunft eine geringere Bedeutung spielen, stattdessen sind die individuellen Bedürfnisse und Bedingungen entscheidend. In den nächsten Monaten wird es darum gehen, die Norm der Selbstbestimmung auch tatsächlich umzusetzen, ohne dabei weder den Menschen mit Behinderungen den notwendigen Schutz zu versagen noch Abhängigkeit einfach wegzudefinieren.
Bezüglich der Älteren hat sich mancherorts eine bevormundete Pflegepraxis eingespielt, die es schleunigst zu modernisieren gilt. Nach vielen Jahren, in denen Pflegebedürftige froh sein konnten, wenn ein Heim sie trotz langer Warteliste aufnahm, ist es schwer, den Paradigmenwechsel vom Bittsteller hin zum Kunden zu realisieren – auf beiden Seiten. Das neue Gesetz will genau das schaffen.

Das Gesetz will die Strukturen den Menschen anpassen und nicht umgekehrt. Dazu ist es unumgänglich, dass die Betroffenen auf Augenhöhe mit den Profis umgehen können. Wir kommen in der Zukunft nicht um umfassende Schulung und Beratung herum. Dabei sind nicht nur die Menschen mit Pflegebedarf gemeint, sondern auch deren Angehörige und Ehrenamtler in den Einrichtungen, die über ihre Möglichkeiten umfassend in Kenntnis gesetzt werden müssen. Das ist eine Form des Verbraucherschutzes, die wir hier in Schleswig-Holstein in die Tat umsetzen.

Sicherlich wird die Ministerin konkrete Erlasse begleitend zum Gesetz herausgeben. Selbstverständlich sollte dabei vermieden werden, dass auf diese Art und Weise - am Landtag vorbei - ein Neben-Gesetz entsteht. Darum sollten auch die Erlasse in die von mir eben erwähnte Evaluierung miteinbezogen werden.

Es ist uns in vielen Bereichen gelungen, die Obrigkeitsbürokratie abzuschaffen; zumindest weitgehend. Ähnliches steht der Heimaufsicht bevor. Sie wird nicht mehr länger nur die Einhaltung starrer Vorschriften kontrollieren und gegebenenfalls sanktionieren, sondern Sie wird stärker als bisher als Coach nachgefragt werden. Ziel muss eine intelligente Steuerung zu Gunsten der Menschen mit Pflegebedarf sein.
Zukünftig werden selbstorganisierte, genossenschaftliche Pflegeformen entstehen, die strukturell gar nichts mehr mit den klassischen Heimen oder Einrichtungen zu tun haben. Dennoch müssen auch in diesen Projekten sowohl die Pflegequalität als auch die Rechte der Beschäftigten gesichert werden. Momentan ist noch unsicher, wie das vonstatten gehen soll. Das neue Gesetz erscheint aber flexibel genug, auch diesen Anforderungen zu entsprechen.

Bei der Anhörung wurde deutlich, dass sich mit dem neuen Gesetz nicht nur die Situation in den Einrichtungen ändern wird, sondern dass die Veränderungen weit darüber hinaus reichen. So entstehen neue Kommunikationswege zwischen den Trägern. Das Nebeneinander von Behindertenbetreuung und Altenpflege scheint sich allmählich aufzulösen. Diesen Prozess sollte die Landesregierung weiter unterstützen, weil davon Impulse für die Arbeit mit Menschen mit Pflegebedarf zu erwarten sind. Die Transparenz der Einrichtungen wird auch zur größeren Durchlässigkeit gegenüber der Umgebung führen. Es gibt immer weniger traditionelle Heime, die vor der Stadt, fernab aller Verkehrswege die Isolation der Bewohner befördern. Sie sind inzwischen mittendrin. Ehrenamtliche Visitationen analog zu den Grünen Damen im Krankenhaus werden weiter dazu beitragen, die künstlichen Grenzen zu überwinden. Noch fehlen entsprechende Anreize; aber es sollte auch nicht alles per Gesetz geregelt werden.

Zusammenfassend ist das vorliegende Gesetz ein Meilenstein in der Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf. Es stellt das Individuum in den Mittelpunkt. Wie flexibel es dann tatsächlich ist, und wie groß die Durchsetzung gegenüber dem Beharrungsvermögen bestehender Strukturen ist, wird sich erst erweisen. Eines ist aber schon heute sicher: der Gesetzesvollzug ist auf qualifizierte Kräfte in der Betreuung angewiesen. Eine weitere Akademisierung ist abzusehen. Diese Entwicklung ist wünschenswert: Endlich werden ausreichend qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen, so dass sich das Studium der Pflegewissenschaft auch lohnt. Hoffentlich schließen sich möglichst viele Bundesländer dem Vorreiter Schleswig-Holstein in der Gesetzgebung an.

Der SSW stimmt der Beschlussvorlage zu.



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