Rede · Flemming Meyer (2009–2020) · 12.11.2008 Pflegegesetzbuch Schleswig-Holstein

Viele Jahrzehnte lang gaben Menschen mit dem Einzug ins Pflegeheim ihre Rechte preis. Sie wurden als Betreuungsfälle definiert und in innerbetriebliche Abläufe eingepasst. Individuellen Wünschen und Vorlieben wurde selten entsprochen.
Das Heimgesetz wollte 1974 diese Missstände abschaffen, den Bewohnern mehr Rechte einräumen und die Vertragsbeziehungen zwischen Trägern, Kostenträgern und Bewohnern transparenter machen. Seitdem gab es viele Änderungen, die die Bemühungen widerspiegelten, in dem Dreieck zwischen Bewohner, Personal und Heimfinanzierung gerechte Ausgleiche zu schaffen. Das Heimgesetz hat sich dabei allmählich von einem reinen Kontrollgesetz zu einem Koordinierungsgesetz gewandelt, das aber immer noch deutliche Lücken hatte und sich von seiner institutionalen Sichtweise, bei der zunächst die Interessen der Institution und erst dann die der Bewohner befriedigt werden, nicht zu lösen vermochte.
Das alles ist jetzt Geschichte. Jetzt fällt den Ländern die Gesetzgebungskompetenz zu. Das ist ein Neuanfang und eine Chance, die nicht oft gewährt wird.
Der SSW begrüßt die Länderkompetenz im Heimrecht. Das ist eindeutig ein Schritt nach vorne, weil die regionalen Besonderheiten am besten vor Ort geregelt werden können. Es ist eben nicht so, dass alle Einrichtungen und ihre Umgebungen gleich sind. Der SSW hat aber gleichzeitig davor gewarnt, mit der Übernahme der Länderkompetenz Standardverschlechterungen zu akzeptieren, die beispielsweise die Zahl qualifizierter Pflegekräfte reduziert. Wir sollten die neuen Regelungsmöglichkeiten für die Verbesserung der Situation der Bewohnerinnen und Bewohner nutzen. Dazu verpflichtet uns bereits die Landesverfassung.

Das neue Pflegegesetzbuch soll in Teilen die rechtliche Grundlage für Heime in Schleswig-Holstein sein. Der Zweck des ersten von dreien Gesetzen ist die Verwirklichung der Rechte von Erwachsenen, die stationär oder teilstationär in Einrichtungen untergebracht sind. Nichts anderes als Erwachsene mit eigenen Rechten sind nämlich die Pflegebedürftigen oder Menschen mit Behinderung, die dauerhaft oder vorübergehend in Institutionen leben. Das Gesetz ermahnt uns in aller Deutlichkeit, keinesfalls die Person hinter ihrer Behinderung oder Beeinträchtigung verschwinden zu lassen. „Der Mensch kommt zuerst!“ Das war das Motto von Menschen, die sich nicht mehr als unmündige Empfänger gut gemeinter Fürsorge verstanden und behandelt wissen wollten, sondern als Menschen. Die Grundlage ist das Recht auf Selbstbestimmung, angefangen bei der Auswahl aus verschiedenen Speisen bis hin zu Entscheidungen der individuellen Lebensplanung.

Damit kann das Pflegegesetzbuch ein Meilenstein in der Pflegepolitik sein. Dahinter sollten wir niemals mehr zurückgehen.

Wie andere Gesetze auch, sollte das neue Pflegegesetzbuch klar, transparent und verbindlich sein.
Bezüglich der Klarheit bringt das neue Gesetze viele Fortschritte: juristische Formulierungen wurden richtiggehend in eine klare Sprache übersetzt, zum Beispiel bei der Definition, was ein Heim überhaupt ist. Das begrüßt der SSW ausdrücklich als Beitrag zur besseren Zugänglichkeit des Gesetzes für Laien. Dies ist besonders wichtig, weil man als Betroffener durchaus auf Unterstützung durch zum Beispiel Angehörige angewiesen sein kann und diese die Rechtsgrundlagen jetzt besser verstehen können. Das trägt zur Transparenz der Regelungen bei.
In puncto Verbindlichkeit bedeutet das Gesetz ebenfalls einen Fortschritt: Der Staat wird verbindlich zur Umsetzung des Verfassungsauftrages verpflichtet. Er sollte diesen Auftrag mit möglichst konkreten Regelungen in Verordnungen umsetzen, um deutlich zu machen, dass es ihm ernst ist. Das Gesetz regelt nur das, wo es aufgrund des Grades der Abhängigkeit des Betroffenen keine Alternative gibt.

In den Einzelregelungen ist der Wunsch nach Verbesserungen zu erkennen: Eindeutig bekennt sich das Land beispielsweise zu seiner Finanzierungsverpflichtung der neutralen Pflegeberatungsstellen. Hier hat Schleswig-Holstein in der Pflege genau das erreicht, was in Sachen Drogenberatung, Familienberatung und Schuldnerberatung noch aussteht.
Das Krisentelefon hat sich ebenfalls mit nahezu 300 Anrufern in 2007 bewährt. Es ist gut, dass diese Einrichtung auf eine solide Basis gestellt wird; auch wenn im Gesetz nicht eindeutig ein Finanzierungsträger genannt wird.

Zwei Regelungen sollten wir dagegen ändern:
Die erste betrifft den Kern der Mitbestimmung. In § 16 fehlen Fragen der Entgeltgestaltung im Katalog der Mitwirkungsbereiche. Im Heimgesetz heißt es in § 7: „Die Erhöhung des Entgelts bedarf außerdem der Zustimmung der Bewohnerin oder des Bewohners.“ Der SSW fordert die Übernahme dieser Regelung auch für Schleswig-Holstein.
Die zweite Regelung betrifft die Angehörigenmitbestimmung. Immer wieder beklagen Angehörige, dass die Heimmitwirkungsverordnung einen Angehörigen- oder Betreuerbeirat nicht verpflichtend geregelt hat. Das Pflegesetzbuch nimmt hier keine materielle Verbesserung vor, sondern formuliert die Beteiligung von Angehörigen als Soll-Vorschrift. Der SSW hat in diesem Bereich erheblichen Beratungsbedarf, der unter anderem durch die Möglichkeit ausgelöst wird, nach dem sich seit Jahresbeginn Menschen mit Behinderung Leistungen zur Teilhabe selber einkaufen können. Viele Betreuer beklagen hier Beteiligungsdefizite.

Doch bei aller Kritik weist das neue Pflegegesetz in die richtige Richtung und trägt den sich wandelnden Ansprüchen in unserer Gesellschaft Rechnung.

Da wir allesamt außerhalb der Heime leben, wissen wir nicht wirklich um den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner. Darum sollten wir sie in der Anhörung zu Wort kommen lassen. Dabei meine ich ausdrücklich nicht nur die Heimbeiräte, sondern auch die Mitwirkungsorgane der Werkstätten für Behinderte und der offenen Wohnformen.

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