Rede · 17.03.2010 Sachstand Hochbegabtenförderung
Neben dem Paragraphen 4 Absatz 1 des schleswig-holsteinischen Schulgesetzes, der allen Kindern ein Recht auf eine Ausbildung nach ihren Begabungen und Fähigkeiten garantiert, gibt es hier im Land eine Vielzahl an Fördermöglichkeiten für Kinder mit besonderen Begabungen.
Der schulpsychologische Dienst, die Beratungsstelle MIND an der Kieler Universität, die Beratungsbroschüre des Bildungsministeriums, Informationsveranstaltungen, Enrichment-Programme, Teilnahme an Wettbewerben, binnendifferenzierter Unterricht, Klassenüberspringen oder Frühstudium - das sind einige und noch längst nicht alle Möglichkeiten hier im Land, Eltern zu beraten und Kinder mit besonderen Begabungen zu fördern. Wenn man sich die Vielzahl an Angeboten anschaut, sollte man meinen, dass es die wichtigste Herausforderung der Schulpolitik ist, die ungefähr 2% der Kinder mit intellektueller Hochbegabung gesondert zu fördern.
Viele Eltern sind der Meinung, dass ihre Kinder hochbegabt sind, weil sie sich im Unterricht langweilen. Langeweile ist aber erst einmal ein Zeichen schlechten Unterrichts. Auch andere Kinder langweilen sich. Wir sprechen hier also nicht über Kinder, die sich langweilen, per se Verhaltensstörungen zeigen oder soziale Schwierigkeiten haben. Und wir sprechen hier auch nicht von den Kindern, die nur hervorragende Noten haben. Wir sprechen vielmehr von Kindern, die ein besonderes Potenzial haben und damit in unserer Gesellschaft manchmal sehr heftig anecken, wenn dieser Reichtum nicht entdeckt und gefördert wird. Und wir sprechen von Kindern, deren besondere Begabung als solche nicht erkannt und angemessen gefordert wird, und die wegen dieser Unterforderung oder Fehlbewertung dauerhafte Anpassungsprobleme haben.
Für den SSW möchte ich ganz klar sagen, dass für diese Kinder in unseren öffentlichen Schulen und in unserer Gesellschaft Raum sein muss. Dazu gehört, dass Eltern Beratungsmöglichkeiten brauchen, dass die Lehrkräfte in den Schulen wissen, wie sie Kinder mit besonderen Begabungen fördern können und dass vor allem die Kinder selbst Angebote erhalten, um ihr Potenzial zu entwickeln.
Bisher sah das Begabtenförderungskonzept des Landes ausdrücklich eine integrative und keine exklusive Förderung dieser Kinder vor. Dazu gehörte, dass zum Beispiel keine statistischen Daten über Kinder mit besonderen Begabungen erhoben wurden. Und dass mit dem entwickelten Konzept des Enrichment-Programms flächendeckend Kooperationsverbünde im Land geschaffen wurden, in denen Kinder mit besonderen Begabungen unkonventionelle Lernwege gehen können, um Neugierde und Begeisterung für die Welt zu entdecken. Es wurden also in Schleswig-Holstein ganz bewusst keine Elitenklassen und keine Elitenschulen geschaffen, um sogenannte hochbegabte Kinder gesondert zu schulen. Aus Sicht des SSW ist das gut so. Kinder mit besonderen Begabungen müssen gefördert werden, aber bitte inklusiv und ohne klassistisch vorzugehen.
Dass CDU und FDP sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt haben, schrittweise Hochbegabtenklassen und Kompetenzzentren zur Hochbegabtenförderung einzurichten, ist meiner Meinung nach leider ein weiteres Beispiel dafür, dass die Landesregierung in Sachen Schulpolitik in einer anderen Welt lebt. Wir haben in Schleswig-Holstein gerade erst versucht, das überholte dreigliedrige Schulsystem zu reformieren. Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz, den integrativen Unterricht durch die Institutionalisierung vermeintlicher Eliten zu ersetzen, nichts anderes als eine Rolle rückwärts. Die Vorstellung, dass nur gezielt angestrebte Selektions- und Herauslösungsprozesse Kinder mit besonderen Begabungen zu Spitzenleistungen antreiben, ist nicht nachweisbar und daher fast so absurd wie der Gedanke, dass sich Schulformen auf einem IQ-Test aufbauen zu lassen.
Ich fasse zusammen: Bei der Diskussion um die Förderung von Kindern mit besonderen Begabungen gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen von geeigneten pädagogischen Zielsetzungen. Und nicht ohne Grund beklagen Lehrer, dass man sich für fundierte Diagnosen und didaktische Methoden nicht ausreichend ausgebildet fühlt. Die individuelle Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen muss aber nach Meinung des SSW unter dem Gesichtspunkt der Inklusion verstanden werden. Es macht also Sinn, ein Grundwissen darüber in der Lehrerausbildung zu vermitteln. Gelingt es, professionelle Begabtenförderung in den normalen Schulalltag zu integrieren, wäre dies für alle einen Gewinn – leben wir doch in einer Gesellschaft, die immer mehr in Gruppen- und Einzelinteressen auseinanderdriftet.