Rede · Flemming Meyer (2009–2020) · 19.06.2002 Volksinitiative für eine menschenwürdige Pflege

Im Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wer aber den All­­tag in der Pflege kennen gelernt hat, weiß, dass die Realität nicht immer diesem An­spru­ch gerecht wird. Dafür gibt es viele Gründe: Manchmal liegt es am Lei­stungs­recht, das die Men­schen in Schubladen steckt, ohne ihre tatsächlichen Be­dürf­nisse zu sehen und sich Zeit für den Einzelnen zu nehmen. Manchmal liegt es an den pflegen­den Men­­schen, die viel­­leicht nicht gelernt haben und nicht wissen können, was heute alles zu einer men­schen­würdigen Pflege gehört. Manchmal liegt es an den Leitungs­anbietern, die es selbst ver­säumt haben, nach der Qualität in ihrer Pflege zu fragen. Manchmal liegt es an den An­ge­höri­gen, die schlicht überfordert sind. Und manchmal – Gott sei Dank nicht so häufig – liegt es an der fehlenden Moral und der kriminellen Energie derjenigen, die mit der Pfle­ge und Betreuung hilf­loser Menschen Geld verdienen. Es gibt viele Gründe für Un­mensch­lichkeiten in der Pflege, und ebenso vielschichtig müssen die Antworten auf die Pro­bleme ausfallen.

Weil der Artikel 1 des Grundgesetzes nicht dazu beitragen konnte, Missstände in der Pfle­­­­ge zu verhindern, haben zwei Wohlfahrtsverbände eine Volksinitiative ins Leben ge­­rufen: Das Recht auf eine menschenwürdige Pflege soll ausdrücklich in die Landes­ver­fassung und das Landespflegegesetz geschrieben werden. Die Volks­­­initiative sam­melte unge­fähr 45.000 Unterschriften und hätte auch keine schlech­ten Chancen, wenn es zu einem Volks­ent­scheid käme.

Wir erkennen an, dass es eine deutliche außerparlamentarische Bekundung dafür gibt, die men­schenwürdige Pflege in die Landesverfassung aufzunehmen. Wir respektieren das of­fen­­sicht­lich eine Mehrheit in der Bevölkerung den Wunsch hat, den mora­li­schen An­spruch auf eine menschenwürdige Pflege in der Verfassung des Lan­des und dem Landes­pfle­gegesetz fest­zuschreiben. Wir meinen, dass der Landtag dem folgen soll. Aber wir wollen auch deut­lich machen, dass wir die Gesetzesänderung auch mit einer gesunden Portion Skepsis sehen.

Bei Verfassungsänderungen stehen wir immer vor dem Dilemma, dass es viele gute Ab­sich­ten gibt, die Verfassung aber nicht alles aufnehmen kann. Eine Verfassung soll kein Poesie­album sein, in das jeder einen schönen Spruch und gute Wünsche schreiben darf. Deshalb gibt es ja auch die Hürde der Zweidrittel-Mehrheit. Eine Verfassung muss Prio­ritäten setzen. Sie nennt die wichtigsten und obersten Ziele des Staates, und muss deshalb die verschiedenen Belange ge­wich­ten. Wir meinen, dass es eine Reihe von Zielen gibt, die min­de­stens genau so wichtig sind wie die Pflege. Deshalb haben wir auch den vor­lie­gen­den Entschließungs­antrag eingebracht. Wir wollen unter­streichen, dass es andere Themen gibt, die für uns ebenso sehr – wenn nicht noch mehr – die Aufnahme in die Landes­verfassung ver­dient haben. Das machen wir aber nicht, in dem wir die Willensbekundung der Bevölke­rung zurückweisen, sondern in dem wir unsere Prioritäten klar aufzeigen. Zu den wichtigsten Punkten gehört für uns Schutz und För­derung der autochtonen Min­der­heiten und die Gleich­stellung sozialer Minderheiten.

Für den SSW ist glasklar, dass die drin­gend­ste Erweiterung der Landesverfassung der Schutz und die Förderung für die Sinti & Roma ist. Es ist wirklich beschämend, dass es bis heute nicht gelungen ist, die dritte Minderheit in Schleswig-Holstein neben Friesen und Dänen gleich­­berechtigt in die Landesverfassung aufzunehmen. Dafür gibt es kei­ne ver­­nünftigen Grün­de – es sei denn man folgt den erheblichen Vorurteilen, die heute im­mer noch bestehen. Wir werden jedenfalls die Hoff­nung nicht aufgeben, dass die FDP und insbesondere die Union in dieser Frage noch eines Tages zur Vernunft kommen. Die sture Ablehnung ist ein Armutszeugnis für eine Partei, die immer wieder gern über Moral und Werte doziert. Es ist „Zeit für Taten“, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.

Gerade der Minderheitenschutz zeigt aber auch auf, dass goldenen Worte in der Verfas­sung allein keine Probleme lösen. Eine Staatszielbestimmung begründet zwar einen mora­li­sches Recht auf Schutz und Förderung des Staates, einen rechtlichen Anspruch auf eine bestimmte Behandlung kann man aber daraus nicht ableiten. Das wissen wir aus leidlicher Erfahrung mit dem Artikel 5 der Landes­verfassung. Zudem ist die Formulierung der Volks­­ini­tiative für eine menschenwürdige Pflege ja auch so abgeschwächt worden, dass sich keine konkreten Rechts­an­sprüche daraus ableiten lassen. Das können wir nämlich gar nicht leisten. Deshalb hoffen wir sehr, dass die­­se Volks­initia­tive keine Hoff­nungen ge­weckt hat, die sich mit dem vorliegenden Gesetz­­­entwurf nicht befriedigen lassen. Gerade weil die Verfassungs­änderung und die Präam­bel im Landespflege­gesetz nicht zwangs­läufig schon Ver­bes­serungen mit sich bringen, können sie leicht dazu beitragen, den Frust gegen die Politik zu richten. Wir können nicht per Gesetz die optimale Pflege durch­set­zen.

Die Pflege steht aber nicht erst seit Gründung der Volksinitiative durch zwei Lei­stungs­träger ganz oben auf der Tagesordnung. Die heutige Debatte ist ein Aus­läufer der mittler­weile meh­rere Jahre laufenden Debatte über die Pflegequalität und Pflegemissstände. Es ist auch schon vieles unter­nom­men wor­den, um die Qualität in der Pflege zu verbessern. Insofern drücken wir mit der Zu­stim­mung zum Ansinnen der Volksinitiative zuerst aus, dass wir diesen Weg für eine men­schen­würdige Pflege weiter beschreiten wollen:

Die pflegen­den Men­­schen müssen durch Qualifikation lernen, was heute alles zu einer men­schenwürdigen Pflege gehört und sie müssen auch humane Arbeitsbedin­gungen ha­ben. Das Lei­­stungs­recht muss endlich reformiert werden, damit es auf die tat­säch­lichen Be­­dürf­­nisse des Einzelnen Rücksicht nimmt und den Pflegenden wieder Raum für mensch­­liche Kontakte lässt. Die Anbieter müssen lernen, die Qualität ihrer Dienst­lei­stun­gen zu sichern. Pflege­bedürftige und ihre Ange­höri­gen müssen Unter­stützung und Bera­tung finden. Unmorali­sche oder gar kriminelle Pflegeanbieter sollen durch mehr Kontrolle aus dem Verkehr gezogen wer­den. Letztlich müssen die pflegebedürftigen Menschen über­haupt wieder mehr in die Mit­te der Gesellschaft geholt werden. Dazu kann jede und jeder Einzelne einen Beitrag leisten.

Es ist klar, dass der Landtag das alles gar nicht regeln kann. Die vielen Pro­bleme und die vielen Beteiligten wird dieser Gesetzentwurf nicht verändern. Insofern ist die Volks­ini­tiative für eine menschen­wür­dige Pflege in erster Linie ein Zaunpfahl, mit dem wir mar­kieren wo für uns die Grenzen einer huma­nen Gesellschaft verlaufen - und mit dem wir Politikern, Verwaltungsleuten und Verbandsvertretern auf allen Ebenen zuwinken, um sie an die Verant­wortung einer humanen Gesellschaft für die Pflegebedürftigen zu er­innern.

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